In Deutschland kann ein Mensch nach einer HIV-Infektion ein fast normales Leben führen. In Afrika ist die Diagnose oft immer noch ein Todesurteil. Ist es moralisch vertretbar, einen abgelehnten Asylbewerber nach Nigeria zurückzuschicken, auch wenn er dort wahrscheinlich nicht adäquat behandelt werden kann?
Jason hat schlechte Laune. Unablässig stapft er auf dem Raucherbalkon auf und ab und rollt dabei mit den Augen wie ein eingesperrtes Raubtier. Ab und zu schnorrt er sich eine Zigarette, raucht sie hastig und schnippt die Kippe achtlos über die Brüstung. Ab und zu klingelt sein Handy und dann spricht Jason laut und schnell in einer fremden Sprache – zwischendurch mal ein paar Worte in Englisch – dann steckt er das Handy weg, dreht sich um und eilt über den Flur zu seiner Zimmertür, die er krachend hinter sich zuwirft. Kalle schaut ihm kopfschüttelnd hinterher.
„Was ist dem denn für eine Laus über die Leber gelaufen?‟
Martin grinst.
„Dem geht’s offenbar zu gut!‟
„Warum?‟
„Als es ihm schlechter ging, war er besser drauf!‟
Bald geht es für Jason nach Hause
Martin macht eine Kunstpause.
„Bald geht’s nach Hause!‟. Er spreizt die Arme ab und bewegt die Handflächen auf und ab. „Ab in den Flieger!‟, fügt er hinzu, „zurück nach Nigeria!‟
Da kommt Jason her. Und zwar aus dem Norden des Landes, wo Terrormilizen all denen das Leben schwer machen, die ihnen in die Quere kommen. Jason war ihnen in die Quere gekommen. Seine kleine Autowerkstatt wurde abgefackelt, mehrere Familienangehörige umgebracht und er selbst musste fliehen. Mit seinem letzten Geld hat er einen Schleuser bezahlt, der ihn übers Mittelmeer nach Europa gebracht hat. Sagt Jason. Die Behörden haben ihm die Geschichte nicht geglaubt. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, Jason sollte abgeschoben werden. Aber dazu war er zu krank.
Husten, Schüttelfrost und dann der Zusammenbruch
Kurz nach seiner Ankunft in Deutschland begann der Husten, der immer schlimmer wurde. Natürlich hat Jason das zunächst auf das ungemütliche Wetter geschoben und nicht weiter beachtet. Auch dann nicht, als Schwindel, und später Atemnot und Schüttelfrost hinzukamen. Irgendwann ist er einfach zusammengeklappt und wurde mit Blaulicht in die Notaufnahme gebracht. Keine Minute zu früh.
Es folgte eine dramatische und langwierige Behandlung auf der Intensivstation mit Beatmung und allem, was dazu gehört. Anfangs stand sein Leben ziemlich auf der Kippe, aber dann hat Jason sich allmählich erholt und konnte auf die Normalstation verlegt werden, wo sich sein Zustand weiter verbesserte.
Jason möchte nicht zurück
„Jason hat Angst!‟, sagt Sarah.
„Das hätte wohl jeder von uns, wenn man ihn nach Nigeria schicken würde!‟, meint Kalle.
„So schlimm kann’s da doch gar nicht sein!‟, sagt Martin. „Der soll doch froh sein, dass er nach Hause kommt!‟
Sarah schüttelt den Kopf.
„Darum geht’s doch gar nicht!‟
„Worum dann?‟, fragt Kalle.
„Dass er dort seine Medikamente nicht bekommt!‟
Er wird niemals mehr gesund werden – schon gar nicht in Afrika
Jetzt hat Kalle verstanden: Jason ist noch lange nicht gesund. Jason wird niemals mehr gesund werden. Natürlich hat man während des Krankenhausaufenthaltes umfangreiche Diagnostik durchgeführt, und natürlich gehört bei einem jungen Menschen mit Fieber, der aus Afrika kommt auch der HIV-Test dazu. Dass der Test positiv ausfiel, war für Jason ein großer Schock.
„Zum Glück gibt’s inzwischen gute Medikamente dafür!‟, sagt Sarah.
Das ist richtig. War die HIV-Diagnose in den 1980er Jahren noch ein sicheres Todesurteil, hat sich seither in der medizinischen Forschung auf diesem Gebiet eine Menge getan. Mittlerweile kann ein HIV-Infizierter ein fast normales Leben führen. Hier in Deutschland. Aber nicht in Afrika. Dort sind die entsprechenden Medikamente kaum zu beschaffen, und wenn, dann sehr teuer und oft gefälscht. Die Lebenserwartung eines Menschen mit HIV-Diagnose ist dort auch heute noch kaum höher als in den 1980er Jahren.
„Meinen Steuergeldern für nigerianische Asylbetrüger?“
Sarah reißt die Augen auf.
„Das heißt, dass er sterben wird, wenn man ihn zurückschickt?‟
„Das wird er wohl tun!‟, sagt Martin und blickt feixend in die Runde, „Wir alle müssen sterben. Die einen früher, die anderen später. Aber ich habe ganz bestimmt anderes zu tun, als mit meinen Steuergeldern nigerianische Asylbetrüger durchzufüttern!‟
Kopfschüttelnd wendet er sich ab.
„Bilde Dir bloß nicht ein, Du könntest die Welt retten!‟, wirft er uns noch hinterher, bevor er im Treppenhaus verschwindet.
„Aber wir können Jason doch nicht einfach so in den Tod schicken?‟, sagt Sarah und schaut fragend von einem zum Anderen.