Im letzten Teil „Interview mit einem Ausgebrannten“ ging es um den abgestumpften Neurochirurgen Dr. Trammel. Dieses Mal treffe ich die Assistenzärztin Julia Krahn. Sie ist ehrgeizig. Zu ehrgeizig. Die Panikattacke trifft sie, als sie mal wieder allein für 26 Patienten verantwortlich ist.
Julia Krahn* ist Patientin in einer Klinik für ausgebrannte Ärtze. Sie sitzt im Aufenthaltsbereich der Einrichtung. Einen Kaffee in der Hand und tiefe Sorgenfalten im Gesicht, erzählt sie ihre Geschichte. Krahn hatte ein gutes Abi, doch es reichte nicht ganz, um Medizin zu studieren, ihren Traumberuf seit Kindheitstagen. Also begann sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Als sich genug Wartezeit angesammelt hatte, bekam sie doch noch den erwünschten Studienplatz. Sie legte ein sehr gutes Examen hin und begann ihre Assistenzarztausbildung in der Inneren Medizin in einer bekannten Münchner Klinik. „Ich war schon immer ehrgeizig“, sagt sie spitz. „Zu ehrgeizig“.
Der Druck steigt unmerklich, aber stetig. Die anfangs hochmotivierte Ärztin gerät immer mehr in die Räder der Mühlen des Komplexes Krankenhauses mit all seinen Fallstricken und Tücken. Mit 33 Jahren scheint sie zwar wie eine erfolgreiche, angesehene Medizinerin - eine, die es „geschafft“ hat, die „angekommen“ ist – doch innerlich merkt sie nicht, welchen hohen Preis sie für ihren immensen Ehrgeiz bezahlt. Sie versucht perfekt zu sein. Für alle Patienten immer das richtige zu geben, den Ansprüchen ihrer Chefs gerecht zu werden und auch noch für ihren Bruder da zu sein, der schwer herzkrank ist. Sie opfert sich auf ohne es zu merken. Teilweise bekommt sie nur vier bis fünf Stunden Schlaf pro Nacht, doch der Schlafmangel ist ihr nicht bewusst. Für sie ist es normal, rund um die Uhr verfügbar zu sein. Zeit für einen Partner oder Kinder hat sie nicht. "Ethikfalle" nennt Hans-Jörg Freese vom Marburger Bund dieses Dilemma, "die Ärzte werden ausgenutzt, weil man weiß, sie lassen die Patienten nicht im Stich".
Gefangen in Unsicherheit
Besonders die Situation als Klinikanfängerin macht Krahn schwer zu schaffen. Es gibt Tage, da fühlt sie sich wie in einem Gefängnis ohne Gitter. Allein auf der Station für 26 Patienten verantwortlich, die meisten davon alt und schwer krank, fühlt sich Krahn überfordert. Doch selbst mit Kollegen ist das eine Sisyphos-Arbeit. Für jede Patientenakte, die abgearbeitet wird, stapeln sich zehn neue auf dem Tisch und für jeden Menschen, den sie sieht, wollen fünf neue mit ihr sprechen. Krank zu machen ist in dieser Situation unvorstellbar. „Wenn ich ausfalle, muss nur ein ohnehin schon überlasteter Kollege meine Arbeit miterledigen“.
Nicht nur zeitlich, auch fachlich sind die meisten Fälle eine Herausforderung für Julia Krahn, die sie alleine nicht zu meistern vermag. Die Unsicherheit nagt an ihr. Hat sie nicht doch etwas übersehen? Sollte sie nicht doch noch einmal Herrn P.’s Akte studieren oder Frau H.’s Blutwerte kontrollieren? Die Angst zu scheitern, zu versagen und einen schlimmen Fehler zu begehen ist enorm. Zudem plagen sie Existenzängste. Verträge ohne Perspektive rauben ihr den letzten Schlaf, sie hangelt sich von einem Einjahresvertrag zum nächsten. Sie fühlt sich ausgeliefert und muss dennoch weiter performen, denn der Chefarzt hat sie damit in der Hand. Schließlich will sie ja ihren Vertrag verlängert bekommen, um ihre Weiterbildung zum Facharzt irgendwann abschließen zu können.
Wie eine Maschine
Julia Krahn hatte schon als Kind immer die Vision wie es als Ärztin sein würde. „Ich wollte Menschen helfen“. Doch das was sie macht, hat nicht immer viel damit zu tun. „Man wird angehalten wirtschaftlich zu arbeiten, das Patientenwohl geht teilweise einfach unter“. Jeden Tag sieht sie von früh bis spät Patienten und dann kommt noch der ganze Papierkram hinzu. Nachts und am Wochenende soll sie dann auch noch Forschung machen, wie vom Chef gewünscht. Die Assistenzärztin kann sich am Ende des Tages nicht einmal mehr an die Menschen erinnern, die sie untersucht und betreut hat. Sie blättert in Laborbefunden ohne sie wirklich zu lesen, sie sitzt in Morgenbesprechungen und Übergaben ohne zuzuhören. Krahn ist abgestumpft, funktioniert nur noch wie eine Maschine.
Gelähmt von der überwältigenden Angst einen schwerwiegenden Fehler begangen zu haben, sitzt sie daheim angekommen häufig nur starr am Küchentisch. Viele junge Kollegen sind orientierungslos, erzählt sie. Aber die meisten würden es irgendwie schaffen sich durch die Assistenzarztzeit zu wurschteln. Bernhard Mäulen vom Institut für Ärztegesundheit in Villingen-Schwenningen erklärt: „Die meisten Mediziner überspielen ihre Probleme. Klappe halten und durch – das hat Tradition in der Medizin“. Der Arztberuf sei eingebettet in ein Klima aus Zeitdruck und Angst. Die Patientenzahl und der Verwaltungsaufwand seien in den letzten Jahren stark gestiegen, erklärt auch Hans-Jörg Freese vom Marburger Bund. Doch die Ärzte bekämen nicht mehr Stunden und da beginnt das Hamsterrad zu rollen. "Dadurch wird die Motivation der heranwachsenden Ärztegeneration ausgehöhlt“, so Mäulen. Seit 35 Jahren erforscht er die gesundheitlichen Risiken des Arztberufs. Immer häufiger leiden auch junge Ärzte an Depressionen und „Burn-Out“.
Die Pistole auf der Brust
Julia Krahn macht trotzdem weiter, bis es irgendwann nicht mehr geht. Mitten in der Klinik, sie war gerade dabei einen Patienten zu untersuchen, bekommt sie eine Panikattacke. „Ich dachte jetzt ist es aus mit mir“, erinnert sich die Assistenzärztin. Plötzlich begann das Herz wie wild zu flattern, Tränen schossen wie Flutwellen aus ihren Augen, sie schwitzte, der Magen verkrampfte sich und eine übermächtige Angst zu sterben überwältigte die junge Frau. „Meine Kollegen dachten an einen Herzinfarkt und schickten mich gleich in die Notaufnahme des Krankenhauses weiter“. Es ist Krahn peinlich, selbst in einem Patientenbett durch die Krankenhausflure geschoben zu werden, dort wo jeder andere sie sehen kann. „Ich wäre am liebsten im Boden versunken“.
In der Notaufnahme stellt man fest, dass mit ihrem Herz alles in Ordnung ist. Die Scham, die Julia Krahn daraufhin empfindet ist so groß, dass sie sich nicht zurück auf ihre Station traut. Endlich nimmt sie sich ein Herz und lässt sich krank schreiben. Doch Hilfe sucht sie sich nicht. „Danach lag ich tagelang im Bett, schwankend zwischen Panik und Depression. Mein Beruf hat mich auf einmal so angekotzt, ich wollte nie wieder einen Schritt in die Klinik machen und am liebsten nur noch heulend im Bett liegen und nie mehr aufstehen“, erinnert sich die junge Ärztin düster. „Ich konnte einfach nicht mehr. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich so weiterleben sollte.“ Krahn plagen Selbstmordgedanken. Eine Nachbarin und gute Freundin sieht nach ihr. Bringt ihr Essen, kauft für sie ein, hört ihr zu. Sie setzt ihr schließlich die Pistole auf die Brust: „Wenn du dir nicht Hilfe suchst, dann lasse ich dich einweisen.“ Krahn ist erschüttert. Auf Druck ihrer Freundin begibt sie sich schließlich, eher unfreiwillig, in die Klinik. „Das war das Beste was ich in diesem Moment machen konnte“, sagt sie im Rückblick. „Doch damals habe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Ich dachte es gibt einfach keine Lösung für mein Problem. Niemand kann mir helfen.“
Leistungsforderung ohne Rücksicht auf Verluste
Manfred Nelting, Ärztlicher Direktor des Gezeiten Hauses – einem privaten Fachkrankenhaus für Psychosomatische Medizin in Bonn – bestätigt, dass die meisten Ärzte mit psychischen Erkrankungen erst viel zu spät in die Klinik kommen. Er kennt die Gründe, die Ärzte wie Krahn oder Trammel in Depressionen treiben: Der Zeit- und Konkurrenzdruck, die Wissensexplosion, die Grenzen des ärztlichen Handelns, die hohe Verantwortung für den Patienten, der Verwaltungsaufwand, die Fremdbestimmung und das starre System. „Doch wer nur auf andere schielt, verliert sich leicht selbst aus den Augen“ erklärt Nelting. „Die jungen Ärzte werden in der Krankenhausarbeit beinahe militärisch gedrillt, es zählt nur die Leistung. Wer durch diese harte Schule geht, lernt nicht sich mitzuteilen oder Grenzen zu setzen. Der knickt nicht ein, der drückt höchstens weg und arbeitet weiter.“ Es gäbe zwar in den Kliniken Angebote wie sogenannte Balint-Gruppen, in denen sich eine kleine Gruppe von Ärzten unter Leitung eines erfahrenen Psychotherapeuten über Erfahrungen in der Arzt-Patienten-Beziehung austauchen sollen, doch genutzt wird das selten. „Selbst Balint hat den bedrohlichen Geruch des Psychischen“, so Nelting lakonisch. Viele Ärzte rümpfen bei diesem Thema die Nase, so etwas brauche man ja nicht. Wenn einer mit einem Psychologen über psychische Herausforderungen sprechen sollte, dann ja wohl eher die Patienten.
Eine kürzlich im Journal of the American Medical Association erschienene Harvard-Studie wertete insgesamt 54 Studien zum Thema "Depression unter Assistenzärzten" aus. Mit schockierendem Ergebnis. Mehr als 17.500 junge Ärzte wurden befragt, wie es um ihre psychische Gesundheit steht. Die Analyse hat Studien ausgewertet, die von 1963 bis 2015 in Europa, Asien, den USA, Afrika und Südamerika zu dem Thema erschienen sind. Je nach Erhebungsmethode leiden demnach zwei von fünf Befragten an einer depressiven Symptomatik oder gar einer Depression.
Resilienzstärkung für Mitarbeiter
An der Uniklinik Mainz wird deshalb ein neues Konzept geprüft, dass speziell für die ärztlichen Mitarbeiter des Krankenhauses erarbeitet wurde. Psychiater Oliver Tüscher vom Deutschen Resilienzzentrum erklärt: „10 bis 30 Prozent aller Mitarbeiter in einem Krankenhaus erfüllen die Zustandsbeschreibung ‚Burn-Out‘“. Zwar wären diese Mediziner und Krankenpfleger nicht alle krank, aber sie seien mit ihrer Arbeit überfordert und emotional erschöpft. Deswegen wurde ein neues Konzept zur Stärkung der Resilienz, das heißt der psychischen Widerstandsfähigkeit, Krisen zu bewältigen, entwickelt. Der Begriff Resilienz kommt ursprünglich aus der Materialwissenschaft und beschreibt einen Zustand, in dem etwas ungeachtet äußerer Einflusse stabil bleibt. Jeder Mensch weist eine unterschiedlich hohe Resilienz, also Widerstandsfähigkeit gegenüber Lebenswidrigkeiten, auf. Persönliche und soziale Ressourcen wie eine intakte Familie, Bezugspersonen, eine harmonische Arbeitsumgebung oder auch eine ausgeprägte emotionale Intelligenz schützen vor dem Absturz in eine tiefe Krise.
Wenn sich die Oberärzte der Mainzer Klinik für Psychiatrie und Psychotherpie nun zur Leitungsrunde treffen, muss ihre Besprechung auf Tüschers Anweisung eineinhalb Minuten warten. In dieser Zeit machen sie spezielle Achtsamkeitsübungen, sie konzentrieren sich ganz auf sich und ihren Körper. Das hilft runterzukommen vom stressigen Alltag und stärkt die Resilienz. Außerdem wurde ein sogenannter „Resilienz-Notfallwagen“ eingeführt. Das ist ein Schiebewagen, den die Pfleger und Ärzte bei besonderem Stress durch die Klinik rollen können und von dem Kaffee ausgeschenkt wird. Er soll die Kollegen zu einer kurzen Verschnaufpause einladen, zum Innehalten und Nachdenken über sich selbst.
Angst vor Statusverlust
In unserer heutigen Zeit, sind solche Konzepte bitternötig. Der Hartmannbund hat mehr als 1300 Assistenzärzte in deutschen Kliniken vom Dezember 2016 bis Januar 2017 befragt wie groß sie ihre Arbeitsbelastung einschätzen. Die Ergebnisse stärken Tüschers Resilienzkonzept: Gut 76 Prozent der Ärzte gaben an, dass sie schon zur Arbeit gegangen sind, obwohl sie krank waren und nicht hätten arbeiten können. Mehr als 70 Prozent macht jede Woche bis zu zehn Überstunden, bei 16 Prozent sind es sogar bis zu 15 Stunden mehr Arbeit als im Vertrag vereinbart. Über die Hälfte der befragten jungen Mediziner gab an, dass ihr Privatleben unter der Arbeit leidet und knapp 30 Prozent empfinden ihre Arbeitsbelastung als so groß, dass sie mit Schlafmangel und gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben. Doch warum ist es immer noch häufig ein Tabu darüber zu sprechen?
Kein Chef will von Arbeitsüberlastung oder emotionaler Erschöpfung seiner Mitarbeiter hören. Oft wird nicht einmal registriert, dass es so etwas überhaupt gibt. Dabei befürchten fast 60 Prozent der deutschen Ärzte laut einer Umfrage des Ärzte-Online-Netzwerks esanum aufgrund eines stressbedingten „Burn-Outs“ längerfristig beruflich auszufallen, den Arztberuf nicht mehr ausüben zu können oder das gesetzliche Renteneintrittsalter von 67 Jahren nicht zu erreichen. Doch zuzugeben, dass man nicht mehr leistungsfähig ist, das können wenige. „Wer möchte schon schwach vor seinen eigenen Patienten dastehen, wenn man ihnen eigentlich helfen soll?“ bemerkt Julia Krahn leise. Gerade für Ärzte gilt, dass sie psychische Schwächen am liebsten verheimlichen oder denken, sie werden damit schon alleine fertig. Sie haben Angst gesellschaftlich und im Kollegenkreis den Status zu verlieren, wenn eine psychische Erkrankung bekannt wird. „Und wenn man ganz ehrlich ist: Mancher Patient tut sich ebenfalls schwer damit, zu akzeptieren, dass auch sein Arzt mal krank ist. Da wird dann schon geredet. Besonders bei psychischen Problemen“, erklärt Michael Berner die Sorgen der Mediziner.
Der unverwundbare Held
Genau darum ist es so wichtig, für dieses Thema zu sensibilisieren. Während bekannte Schauspieler oder Sportler sich immer öfter öffentlich zu ihrem Erschöpfungszustand und Depressionen bekennen und hier die Stigmatisierung langsam abnimmt, hört man selten von Ärzten, die öffentlich zu ihrer psychischen Erkrankung stehen. Wenn sie sich doch einmal in psychische Behandlung begeben, dann eher heimlich. Möglichst ohne, dass Kollegen oder schlimmer noch eigene Patienten von der Krankheit erfahren. Es schwingt immer die Angst mit, als „verwundbarer“ Arzt von der Gesellschaft stigmatisiert zu werden und womöglich seinen Beruf nicht mehr ausüben zu können, selbst wenn die Erkrankung überwunden ist. „Dieses Stigma können wir nur auflösen, wenn wir als Ärzte die Tabuisierung nicht noch durch unser eigenes Verhalten verstärken", betont Michael Freudenberg, Oberarzt in der Gerontopsychiatrie am AMEOS Klinikum in Neustadt. „Als Arzt einen ‚Burn-Out‘ zuzugeben, gilt als Schwäche und wird als Versagen wahrgenommen.“
Auch deshalb, weil viele denken, man müsse als Arzt mehr leisten als andere. Viele überanstrengen sich, weil das Bild vom starken, unzerbrechlichen „Halbgott in Weiß“ noch in vielen Köpfen festsitzt, auch in Medizinern selbst. Die meisten Ärzte haben einen überhöhten Anspruch an sich selbst. Gerade der ältere Kollege ist es gewohnt sich keine Hilfe zu suchen, wenn es ihm mal schlecht geht. "Diese Eigenschaften befähigen ihn einerseits, 72 Stunden Notarztdienst durchzuhalten, ohne zu sagen: Scheiße, ich höre auf, ihr spinnt doch alle", sagt Mäulen. Andererseits stürze sein Selbstwertgefühl rasch ins Bodenlose, wenn ein Arzt seine hohen Anforderungen an sich selbst auf einmal nicht mehr erfüllen könne.
Michael Berner sieht aber noch einen anderen Grund, der zu der bedingungslosen Aufopferung von vielen Ärzten beiträgt. Unser System wählt gezielt leistungsbereite Menschen dafür aus. Das ist an sich eine gute Sache, da man den Belastungen des medizinischen Alltags auch gewachsen sein muss. Doch es gibt auch Schattenseiten: „Die Anforderungen, um den medizinischen Beruf ergreifen zu dürfen, sind sehr hoch: Einser-Abitur, Eignungstest, dann das harte Studium. Da bringen viele schon von zu Hause die Einstellung mit: „Du darfst nicht versagen“, erklärt Berner.
Mut zum Nein-Sagen
Julia Krahn erhält in der Klinik angekommen eine individuelle Therapie aus Körperarbeit, Psychotherpie, Einzel- und Gruppengesprächen. Das setzt bei ihr neue Energien frei, sie beginnt über sich zu sprechen, lernt achtsam zu sein, auf ihren Körper zu hören und Signale der Überforderung frühzeitig zu erkennen. Vor allem aber lernt sie hier Grenzen und Freiräume zu setzen. „Ich weiß jetzt, dass ich was sagen muss, wenn ich nicht mehr kann. Ich darf nicht mehr alles hinunterschlucken und muss den Mut haben auch mal nein zu sagen.“ Krahn musste sich früher viele Sprüche anhören. „Ein Patient meinte für Ärzte sei es doch normal, dass man 24 Stunden am Tag für sie da ist, egal ob Tag oder Nacht“, erzählt die Ärztin. Das gehöre eben dazu, schließlich hätte sie sich diesen Beruf ja ausgesucht.
Aber besonders die Kollegen und Vorgesetzten waren die härtesten Richter. Krahns Wünsche zum Dienstplan wurden häufig ignoriert und sogar belächelt. Wenn sie nicht leistungsfähig genug sei, dann wäre der Job wohl nichts für sie und sie solle doch einfach kündigen, wurde sie häufig kritisiert. „Jetzt weiß ich, dass ich auf solche Sprüche nichts geben darf. Wenn es mir zu viel wird, dann muss ich meinem Körper eine Auszeit gönnen, egal was andere sagen.“ Deswegen sei sie auch keine schlechtere Ärztin. „Ich möchte gute Medizin machen, dazu gehört aber auch, dass ich mich um mich selbst kümmere“. Ärztliche Selbstaufgabe nützt keinem Patienten etwas, wenn der Doktor aus Übermüdung wichtige Sachen übersieht. Wer selbst durch die Überlastung im Beruf krank wird, kann keine Patienten mehr heilen. Die menschliche Fürsorge und Verantwortung sind wichtig und dazu gehört auch die Selbstfürsorge und die Fähigkeit eigene Grenzen zu erkennen und zu beachten.
Chance auf ein neues Leben
Trammel und Krahn verstehen sich gut. Sie tauschen sich oft über Erlebtes, über Gefühltes, Sorgen und Wünsche für das zukünftige Leben aus. Besonders in den Gruppensitzungen lernen sie ihre Scham und Angst vor dem Scheitern abzulegen und darüber zu sprechen wie es in ihnen wirklich aussieht. Sie, die eigentlich Patienten behandeln sollten, sind selbst zu Patienten geworden. In den Gesprächen merken sie, dass man sich dafür nicht schämen muss. Die einst hilflos Gestrandeten sind zu Menschen geworden, die den Mut haben offen über ihre psychische Erkrankung zu reden. Zumindest in der Gruppe und unter Kollegen. Trammel und Krahn möchten für diesen Artikel anonym bleiben.
In der Klinik lernen sie auch, wie es nach einem psychischen Zusammenbruch weitergeht. „Das Leben ist nicht zu Ende. Vielmehr kann ich meine Beschwerden als eine Art Weckruf des Körpers sehen, mit dem ich jahrelang Raubbau betrieben habe und als Chance es die nächsten Jahre besser zu machen“, meint Trammel. „Inzwischen weiß ich, dass ich mir das Leben wie bisher nicht mehr antun kann“. Gerhard Trammel hat unterstützt durch Psychotherapeuten den Mut gefunden neue Bewerbungen zu verschicken. „Ich habe keine Angst lange arbeitslos zu bleiben.“
Beworben hat sich Trammel ausschließlich in Kur- und Rehakliniken. Er wünscht sich einen sanften Wiedereinstieg ins Berufleben ohne Notfälle und mit genügend Zeit Patienten als Ganzes zu betrachten sowie ohne Druck zu behandeln. In den OP will er nicht mehr zurück. „Meine Zeit als Neurochirurg ist vorbei“, sagt Trammel und wirkt dabei erleichtert sowie ein Stück weit befreit von der jahrzehntelangen großen Verantwortung. Trammel hat auch wieder Kontakt zu seiner Frau und seinen Kindern aufgenommen. Sie besuchen ihn regelmäßig in der Klinik. Ob es irgendwann wieder ein gemeinsames Familienleben geben wird, weiß er nicht, doch er gibt sich alle Mühe seinen Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Auch Julia Krahn macht sich hier Gedanken um ihre berufliche Zukunft. Die Assistenzarztausbildung in der Inneren Medizin will sie erstmal nicht mehr fortsetzen. „Ich will keine Dreiminutenmedizin mehr, ich möchte für meine Patienten voll da sein und Zeit für sie haben“. Interesse hat sie durch ihren Aufenthalt in der Klinik an der Psychiatrie oder Psychosomatik bekommen. In diesen Fachgebieten hat man Zeit sich ausgiebig mit den Patienten zu beschäftigen, obwohl es auch hier stressig sein kann. Durch ihre Erfahrungen könne sie aber anderen Betroffenen empathischer begegnen und hätte einen ganz anderen Blickwinkel bei der Behandlung. Eins ist jedenfalls für die junge Ärztin sicher „Zu meinem früheren Leben will ich nie wieder zurück.“
* Namen geändert
Weiterführende Links:
http://www.deutsche-depressionshilfe.de/
http://www.depressionen-verstehen.de/angehoerige/
http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/WI-Angehoerige-Depression-BAEK.pdf
https://www.hilfe-bei-burnout.de
http://trotzallem-jazumleben.de
https://www.burn-out-syndrom.org/