Ein aktueller Fall in meiner Praxis hat mich mal wieder zum Nachdenken gebracht. Dieser Patient, Herr Zimmerer, vereinte alle Indikationen, die es für eine Tonsillektomie gibt: vorangegangene Abszesse, mehr als zehn eitrige, fiebrige und antibiotikapflichtige und offensichtlich von den Mandeln ausgehende Entzündungen pro Jahr, Abstriche mit Keimen, die schon auf die ersten Antibiotika resistent reagierten, ein Verlauf über fünf Jahre mit drei Krankenhausaufenthalten und mittlerweile Krankschreibungen über Monate. Alles war für die Operation geplant, doch dann:
Drei Tage vor dem Stichtag hörte ich laute Stimmen an der Anmeldung meiner Praxis. Herr Zimmerer wollte mich unverzüglich sprechen. Ich spürte, dass er sich nicht beruhigen lassen würde, wenn ich nicht ein sofortiges persönliches Gespräch zuließ. Dann mussten die anderen Patienten wohl warten.
Eher besorgt, defensiv, forschend und sachlich hatte ich Herrn Zimmerer in Erinnerung. Aber nun erkannte ich ihn nicht wieder: roter Kopf, Schweiß auf der Stirn, richtig aufgebracht.
Wie ich ihm denn die Entfernung der Mandeln empfehlen könne, brüllte er mich beinahe an. Er sei bei einem Spezialisten gewesen, der ihm dringend abgeraten hätte, auf das Zentrum des Immunsystems könne man doch nicht verzichten!
Ein technisch einfacher Eingriff, so häufig durchgeführt, doch so umstritten!
Die Operation an den Tonsillen ist in meinem Fach wohl eine der häufigsten. Während man früher schon bei seltenen Entzündungen oder beim Anblick zerklüfteter Mandeln – „Die sehen ja schlimm aus. Die müssen raus!“ – zur Entfernung riet, ist man heute auch in den aktuellen Leitlinien deutlich zurückhaltender.
Hier der Versuch eines praktizierenden HNO-Arztes, der neben Berücksichtigung der Leitlinien und Studien versucht, mit Logik und gesundem Menschverstand an die Fragen des Alltags heranzugehen und so Klarheit zu schaffen. Beginnen wir mit den Grundlagen.
Funktion und Besonderheit der Tonsilla pallatina. Warum machen wir eine Tonsillektomie?
Die Gaumenmandeln sind Teil des Lymphatischen Systems und dienen dem Körper als Schutz vor Infektionen. Sie haben im Verlauf des eigenen Lebens eine Historie. In den ersten Lebensjahren sind sie besonders wichtig, weil sie als „Wächter“ der Atem- und Speisewege die Krankheitserreger erkennen und die Differenzierung der spezifischen Immunantworteinleiten. Bei Infekten in der Region reagieren sie durch Größenzunahme in der akuten und postakuten Phase. In der histologischen Aufarbeitung findet man nahezu immer Zeichen einer floriden Entzündung.
Ihre Besonderheit ist ihr Aufbau.
Zur Vergrößerung ihrer Oberfläche können sich tiefe Taschen bilden. In diesen Krypten sammeln sich auch Speisereste und Hautabschilferungen, die dann zu Tonsillenpfröpfen oder -steinen führen können. Im schlimmsten Fall entstehen so Reizungen oder es bildet sich ein unangenehmer Geruch – beides ist harmlos.
Was jedoch, wenn sich tief in diesen Einziehungen Bakteriennester festsetzen und als Streuherd für lokale Entzündungen (akute Tonsillitiden) fungieren oder langfristig zu der gefürchteten Absiedlungen an vorgeschädigten Herzklappen mitsichbringen?
Konsequenz: Tonsillen haben eine wichtige Funktion. An Bedeutung nehmen sie nach Jahren ab, sind also entbehrlich, da andere Teile des umfangreichen Lymphatischen Systems die Funktion übernehmen können. Bei häufigen fokusbedingten Entzündungen, also von den Tonsillen ausgehend, schaden sie mehr, als dass sie nützen. Abzugrenzen sind funktionsgerechte Reaktionen der Tonsillen auf lokale Entzündungen. Daraus folgt die Indikation zur Tonsillektomieals Resultat einer Schaden-Nutzen-Abwägung. Hierbei sind die Leitlinien wegweisend.
Das Problem: eine fachgerechte Unterscheidung einer akuten Tonsillitisund einer physiologischen Reaktion auf einen Umgebungsinfekt.
Tonsillektomie, Tonsillotomie oder partielle Tonsillektomie?
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Die Tonsillektomie: Sie ist als Operation einfach. Am Ende muss die Tonsille komplett entfernt sein. In der Regel reicht eine Jahrzehnte alte Technik: Aufsuchen der Tonsillenkapsel durch Inzision am vorderen Gaumenbogen, Ablösen der Mandel vom umgebenden Gewebe mit einem scharfen Löffel (Raspatorium) entlang der Kapsel, Schonung der darunter liegenden Muskulatur, basales Absetzen, gezielte Blutstillung mit Vermeidung großer thermische Belastung, die zu vermehrten Schmerzen und Wundheilungsverzögerung führt.
Wer einmal die große Wunde mit freigelegtem Muskelgewebe und längs- wie querverlaufenden Blutgefäßen gesehen hat, kann die Folgen erahnen: Schmerzen bei jedem Schluckakt, bei dem die raue Zunge über die Wunde reibt und mögliche Nachblutungen. Die sekundäre Wundheilung braucht ca. drei Wochen.
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Die Tonsillotomie: Warum machen wir eine Tonsillotomie? Bitte nicht überrascht sein, weil es so trivial anmutet: weil die Tonsillen zu groß sind! Dies ist der Fall, wenn es zu Schluck- und Atemstörung kommt, auch im Rahmen schlafbedingter Atemstörungen, wie zum Beispiel beim kindlichen Schlafapnoe-Syndrom.
Eine Tonsillotomie kann bei einer chronischen Tonsillitis so wirksam sein wie eine Komplettentnahme. Dabei müssten dann die Bakteriennester nur sicher mit entfernt werden. Und damit haben wir schon ein aus meiner Sicht bestehendes Problem der gesamten Diskussion: Es gibt keinen Standard bei der Operationstechnik der Tonsillotomie.
Eine Tonsillotomie wird nicht nur technisch sehr unterschiedlich durchgeführt (Laser, Argon-Plasma, Monopolar- Messer, Skalpell, etc.), sondern auch in der prozentualen Entnahmemenge des Gewebes. Aus meiner Sicht ist eine Entfernung von ca. 80 Prozent der Tonsille sinnvoll.
Natürlich verursacht eine Tonsillotomie weniger postoperative Beschwerden als die Tonsillektomie. Das Restgewebe schützt und die kleinere Wunde verursacht weniger Schmerzen. Ob es seltener zu Nachblutungen kommt, ist schwer zu beurteilen, weil bei Erwachsenen die Vergleichsstudien fehlen. Die Funktion bleibt erhalten, aber eventuell bleiben mögliche Fokusbeschwerden.
Was bedeutet das für meine Arbeit?
Ich gehe mittlerweile folgendermaßen vor:
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Tonsillotomie empfinde ich als ratsam bei Schluck- und/oder Atembeschwerden, die ihre Ursache in einer massiven Vergrößerung der Tonsillen haben („kissing tonsills“). Hierbei Reduktion auf ca. 20 Prozent Restgewebe, in der Regel Durchführung bei Kindern bis ca. acht Jahren. Stationäre Überwachung wegen seltener Nachblutungen und Analgetika-Einstellung mit Kontrolle der Trinkmenge, zum Beispiel ist das die Therapie der Wahl bei kindlichem OSAS.
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Tonsillektomie bei rezidivierenden eitrigen und von den Tonsillen ausgehenden Entzündungen gemäß der Leitlinien. Damit sichere und standardisierte Entfernung der Eiterherde als Fokus. Sinnlos bei physiologischen Mitreaktionen einer meist virusbedingten Pharyngitis, mehr Nutzen der Operation, je häufiger Tonsillitiden auftreten.
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Kinder bis acht Jahre: Funktion der Tonsille noch von größerer Bedeutung, deshalb halte ich eine Tonsillektomie nur in absoluten Ausnahmefällen für sinnvoll.
Das verringerte Risiko einer Tonsillotomie bei Kindern hat auch praktische Vorteile: Ein kleines Kind ist mit dem Umgang einer möglichen deutlichen Nachblutung (Erkennen, den Eltern Bescheid geben, Verhalten bis zur ärztlichen Hilfe) eher überfordert als ein Jugendlicher oder Erwachsener.
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Jugendliche und Erwachsene: Tonsillen gelten als entbehrlich. Deshalb sollte grundsätzlich eine Tonsillektomie durchgeführt werden. Stationäre Überwachung bis zum fünften postoperativen Tag, danach mindestens weitere zwei Wochen keine körperliche Belastung, in der Regel AU/ Schulbefreiung. Dadurch auch Besserung der Lebensqualität.
Das IQWiG und meine eigenen Erfahrungen
Anfang März hatte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) eine Untersuchung zu dem Thema Tonsillotomie vs. Tonsillektomie veröffentlicht (DocCheck berichtete). Wenn man den Auftraggeber dieser Studie berücksichtigt, den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), bleibt zu hoffen, dass es um das Wohl der Patienten geht und nicht um wirtschaftliche Interessen. Aber auch das IQWIG ist in seiner Untersuchung zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen.
Nicht jeder Therapeut ist selbst betroffen, aber ich habe aus ähnlichen Gründen wie Herr Zimmerer 2008 meine Mandeln entfernen lassen. Ich habe vier Wochen unter den Schmerzen gelitten. Seitdem sind nicht nur regionale Entzündungen eine Seltenheit und deutlich geringer in der Ausprägung, auch meine Krankheitstage haben massiv abgenommen.
Ist also das Zentrum des Immunsystems doch nicht so wichtig? Oder hatten mich die rezidivierenden Infekte dauerhaft geschwächt und so anfälliger für weitere Infektionen gemacht?
Quellen: