Anderthalb Jahre nach Einführung von Notfallkontrazeptiva als OTCs warnen europäische Behörden vor längst bekannten Wechselwirkungen. Viele Arzneistoffe induzieren das Cytochrom-System. Jetzt folgen neue Empfehlungen für den Ernstfall.
Seit dem OTC-Switch im März 2015 haben Notfallkontrazeptiva ihren festen Platz in öffentlichen Apotheken behauptet. Der Absatz ist zunächst stark angestiegen und hat sich dann auf hohem Niveau stabilisiert. Wie die ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände berichtet, waren es zu Zeiten der Verschreibungspflicht monatlich 37.300 bis 39.800 Packungen. Nach einem Sprung auf 60.200 Packungen (Mai 2015) stabilisierte sich der Absatz auf diesem Niveau. Verordnungen zu Lasten von Krankenversicherungen sind in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Absatz von Notfallkontrazeptiva in öffentlichen Apotheken in Packungszahlen. Quelle: ABDA
YouGov warf in diesem Zusammenhang einen Blick auf Anwenderinnen. Marktforscher wollten wissen, wie sich Frauen über die „Pille danach“ informieren. An erster Stelle nannten Befragte über alle Altersklassen hinweg ihren Arzt (44 Prozent), gefolgt von Suchmaschinen (22 Prozent), Gesundheitsportalen (18 Prozent) und Apothekern beziehungsweise PTA (16 Prozent). Lediglich Frauen zwischen 18 und 24 Jahren arbeiteten häufiger mit Suchmaschinen (32 Prozent) oder Online-Gesundheitsportalen (29 Prozent). Sie zählten zu den Hauptanwenderinnen - sehr zur Freude von Firmen. Durch den OTC-Switch haben Hersteller die Möglichkeit, Kundinnen direkt anzusprechen, wie hier die HRA Pharma Deutschland GmbH. Screenshot: DocCheck Erschreckend: Etwa 19 Prozent wussten nicht im Geringsten, wie entsprechende Präparate wirken. Und 78 Prozent hatten eine mehr oder minder grobe Vorstellung vom Wirkungsmechanismus. Im Zweifelsfall erzählen sie Health Professionals auch nicht, dass sie an chronischen Erkrankungen leiden und Medikamente einnehmen. Erhalten sie zusätzlich noch die "Pille danach", sind gefährliche Interaktionen möglich, wie Studien zeigen.
Zum Hintergrund: Dass Levonorgestrel über Cytochrom P450 3A4 interagiert, ist wissenschaftlich betrachtet nicht neu. Monica L. Carten von der University of Colorado Denver berichtete bereits vor vier Jahren von gefährlichen Effekten. Nehmen Patientinnen mit HIV-Infektion den nichtnukleosidischen Reverse-Trankskriptaseinhibitor Efavirenz ein, funktionieren Notfallkontrazeptiva nicht immer. Der Plasmaspiegel von Levonorgestrel sinkt um die Hälfte. Damit reichen übliche Gaben von 1,5 Milligramm nicht aus, um Schwangerschaften sicher zu verhindern. Ärzte und Apotheker sind besorgt: Efavirenz begünstigt Neuralrohrdefekte. Auch das HIV-Medikament Ritonavir, die Antikonvulsiva Carbamazepin, Primidon, Phenytoin und Phenobarbital, die Tuberkulostatika Rifampicin und Rifabutin oder das Antimykotikum Griseofulvin beeinflussen den Levonorgestrel-Spiegel. Gleichzeitig warnen Forscher vor Phytopharmaka, allen voran vor Johanniskraut-Extrakten. Im aktuellen Drug Safety Update empfiehlt die britische Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency (MHRA) deshalb zwei Strategien. Patientinnen sollten umgehend ihren Gynäkologen aufsuchen und sich Intrauterinpessare einsetzen lassen, etwa die „Kupferspirale“. Falls dies nicht möglich ist, bleibt ihnen eine pharmakologische Alternative. Die MHRA rät zur doppelten Levonorgestrel-Dosis, sprich 3,0 statt 1,5 Milligramm. Ulipristalacetat sollte nicht abgegeben werden, falls Kundinnen in den letzten vier Wochen Arzneimittel einnehmen mussten, die als Cytochrom-Induktoren wirken.
Jetzt meldet sich die European Medicines Agency (EMA) ebenfalls zu Wort. Ende Mai hatten Arzneimittelexperten eine Überprüfung von Levonorgestrel abgeschlossen. Der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) rät Patientinnen mit kritischer Pharmakotherapie ebenfalls zu Maßnahmen der nichthormonellen Notfallkontrazeption. Bleibt als Alternative, Levonorgestrel-Gaben zu verdoppeln. Entsprechende Hinweise sollen demnächst auf Packungen zu finden sein. „Durch die höhere Dosis ist kein erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen zu erwarten“, so die EMA weiter. Hinter dieser Stellungnahme verbergen sich vor allem bürokratische Absonderlichkeiten. „Obwohl die Mitgliedstaaten zustimmten, dass Efavirenz in Wechselwirkung mit Levonorgestrel tritt und dass diese Informationen in die Produktinformation aufgenommen werden sollten, waren die Mitgliedstaaten nicht in der Lage, sich bezüglich der Frage zu einigen, wie dieser Wechselwirkung Rechnung zu tragen ist und ob bestimmte Empfehlungen wie z. B. Dosisanpassungen für Frauen erforderlich sind (...)", schreiben Behördenvertreter in ihrer Stellungnahme. Der Vorgang zeigt, wie lange es dauern kann, bis wissenschaftlich länger bekannte Fakten den weiten Sprung in Richtung Praxis schaffen.
Noch ein Blick auf Deutschland. In den Handlungsempfehlungen der Bundesapothekerkammer (BAK) sind noch keine aktualisierten Ratschläge zu finden. Das Dokument weist zwar auf potenziell relevante Interaktionen mit CYP3A4-Induktoren wie Johanniskraut/Hypericin, Phenytoin, Phenobarbital, Carbamazepin, Oxcarbazepin, Primidon, Ritonavir, Efavirenz, Nevirapin, Rifampicin oder Rifabutin hin. Apothekern wird jedoch nur an die Hand gegeben: „ggf. Empfehlung einer ärztlichen Beratung zur möglichen Einlage einer Kupferspirale“.