Die Zeiten haben sich geändert. Davon berichtet mein Praxisvorgänger gerne. Er kann mir auch erklären, warum es um die Kassenpatienten immer schlechter bestellt ist und wer daran die Schuld trägt.
Gestern war mein lieber Kollege und Vorgänger zur Untersuchung in meiner Praxis. Ohren säubern wegen der Hörgeräte. Es ist immer schön, ihn zu sehen. Wir sprechen über die Veränderungen, die die Zeit so mit sich bringt. Er bestaunt die neuen Geräte, wundert sich zwar nicht über die Schlange an der Anmeldung, dafür über die rüpelhaften Anfeindungen, denen unsere Helferinnen immer häufiger ausgesetzt sind.
Das „Du“ hat er mir erst vor einem Jahr angeboten. Es ist für ihn etwas besonderes, eine so vertrauten Umgang zu pflegen. Er ist ein HNO-Arzt alter Schule, ein Gentleman.
Die Konkurrenz schläft nicht
„Hast du eigentlich mitbekommen, dass Dr. Beckmann im Nachbarort jetzt drei Nachmittage in der Woche nur noch Privatpatienten behandelt?“, fragt er mich, stets besorgt um meine Konkurrenzfähigkeit.
„Vielen Dank für den Hinweis! Das erklärt natürlich, dass an diesen Tagen der Ansturm an Kassenpatienten bei uns stark zunimmt“, erwidere ich.
„Dann werden die Privatpatienten bald wohl lieber dort hingehen, weil es dann nicht so hektisch und voll ist.“ Ich habe nämlich keinen Privat-Wartebereich.
Er ergänzt: „Ein Freund von mir aus der Skatgruppe war letzte Woche dort, alles sehr schick und ruhig, ohne lange Wartezeiten.“
Einen Moment Stille im Raum. Dann fasst der Kollege zusammen, was mir gerade durch den Kopf geht: „Dann wird es ja bald zu einer Abwanderung einiger Privatpatienten von hier zu Dr. Beckmann kommen. Dafür bekommst du dann seine Kassenpatienten.“ Sein Blick ist besorgt. Er weiß, wie hoch meine finanzielle Belastung durch diese Praxis ist. Dazu kamen im Frühjahr erst Neuinvestitionen veralteter Untersuchungsgeräte von ca. 15.000 Euro und letztes Jahr musste ich unter anderem den Austausch aller Rechner von Windows XP auf Windows 7 stemmen.
„Ganz klar, der Kollege möchte den Anteil an Privatpatienten erhöhen.“
Früher hat es das nicht gegeben
Ein wenig Zeit habe ich: „Wann fing es deiner Meinung nach an, dass sich die Ärzte verstärkt um Privatpatienten bemüht haben?“
„Privatpatienten waren natürlich immer gerne gesehen, weil man der PKV mehr in Rechnung stellen kann als der Kassenärztlichen Vereinigung. Aber die Leistungen im GKV-System wurden früher besser bezahlt als heute. Wir haben ja trotzdem alle Leistungen damals bezahlt bekommen. Heute arbeitest du die letzten Wochen des Quartals für nix. Erzähl mal irgendeinem anderen, dass er Überstunden nicht bezahlt bekommt und ab dem 100. Brot des Tages alles verschenken soll. Dieses Budget ist doch Irrsinn!“
Arzt - wirklich ein Traumberuf?
Ich möchte alle Menschen gleich behandeln! Egal, welchem Geschlecht sie angehören, welches Alter sie haben, woher sie stammen oder welcher sexuellen Orientierung oder Religion sie sich zugehörig fühlen und ich möchte sie auch unabhängig vom Aufenthaltsstatus oder ihrer Versicherung behandeln. Aber ist es zumutbar, dass ich jetzt um mich herum nur noch Rosinenpicker habe und als einziger meiner moralischen Verantwortung als Arzt gerecht werde?
Die Zahl der Patienten ist wohl gleich geblieben, aber die Bezahlung ist ungerechter. Und dann mit finanzieller Obergrenze, auch wenn mehr geleistet wird. Also reduzieren einige Ärzte die Anzahl der Kassenpatienten bestmöglichst um die Zahl, um die das Budget überschritten wird. In der gewonnenen Zeit behandelt man Privatpatienten.
Wie bleibt die moralische Verantwortung?
Um mich herum vier Praxen, zwei reine Privat- und Selbstzahlerpraxen, zwei Kollegen mit KV-Zulassung und ausgedehnten Sprechzeiten nur für Privatpatienten. „Wir haben jetzt Privatsprechstunde, gehen Sie doch zu Dr. Foraminologe, der ist jetzt für Sie zuständig!“, heißt es dann dort am Empfang. Und ich Depp halte den Kollegen dann den Rücken frei. Wessen Schuld ist das?
Wem kann man diese Ungerechtigkeit vorwerfen? Den Privatpatienten, den Ärzten? Nein, wohl eher denen, die die Behandlung der Kassenpatienten so schlecht entlohnen: den Politikern, die das Budget eingeführt haben. Auf Druck der Lobby der Krankenkassen. Und mit einer intelligenten Kampagne schieben sie diesen Mangel an Versorgung dann den Ärzten in die Schuhe.
Was noch klargestellt werden sollte
Nur bevor Fragen kommen: Ich kenne sehr wenig Ärzte mit Praxis, die einen Porsche fahren. Das Geld dafür haben sie meist geerbt, durch Nebentätigkeiten oder eine besser verdienende Ehefrau. Wenn ich alles zusammenrechne, habe ich einen geringeren Stundenlohn als ein Oberarzt im Krankenhaus.
Wenn es um Ablenkung und Schuldzuweisung geht, kann man von den Politikern und Lobbyisten der Krankenkassen viel lernen. Sie wollen Patienten gegen die Ärzteschaft aufbringen. Man sollte sich keinesfalls von einer solchen Kampagne benutzen lassen.
Glauben Sie, dass die Versorung besser wird, wenn die Entlohnung geringer und ungerechter wird? Wohl kaum!