Die „Pille“ ist bei Frauen im gebärfähigen Alter beliebt wie eh und je. Sie gilt als vergleichsweise sichere Möglichkeit der Empfängnisverhütung. Jetzt zeigen Forscher, dass Präparate zu psychischen Funktionsstörungen führen. Doch die Studie wirft Fragen auf.
Repräsentativen Erhebungen zufolge nehmen bundesweit etwa sechs bis sieben Millionen Frauen orale Antikontrazeptiva ein. Zwischen dem 18. und dem 20. Lebensjahr greifen 80 Prozent auf diese Methode zurück. Bis auf wenige Ausnahmen handelt es sich bei den Präparaten um Estrogen-Gestagen-Kombinationen. Doch „die Pille“ zeigt nicht nur den erwünschten Effekt, wie Holly Brockwell aus Großbritannien berichtet. Die 26-jährige Journalistin rief Leidensgenossinnen auf, über Twitter (#MyPillStory) von ihren Erfahrungen zu berichten. Frauen klagten teilweise über depressive Symptome, die sie mit ihrer „Pille“ in Zusammenhang brachten. Jetzt stellten Charlotte Wessel Skovlund und Øjvind Lidegaard von der Universität Kopenhagen die Beobachtung auf eine wissenschaftliche Basis .
Beliebteste Verhütungsmethoden in Deutschland. Quelle: Statista / Screenshot: DocCheck Zusammen mit Kollegen werteten sie Daten des National Prescription Register und des Psychiatric Central Research Register aus. Alle 1,1 Millionen Teilnehmerinnen waren zum Zeitpunkt der Erhebung 15 bis 34 Jahre alt und lebten in Dänemark. Medikationsdaten wurden zwischen Januar 1995 und Dezember 2013 erfasst. Das beinhaltete auch Rezepte mit Antidepressiva.
Wessel Skovlund und Lidegaard fanden zwar statistisch signifikante Zusammenhänge bei allen Arten der Verhütung. Verglichen mit Frauen ohne Kontrazeption lag das relative Risiko (RR), Antidepressiva verordnet zu bekommen, bei 1,23. Dabei gab es deutliche Unterschiede je nach Wirkstoff und Galenik. Das Spektrum reichte von 1.34 (Gestagene), 1,4 (intrauterine Pessare mit Levonorgestrel) und 1,6 (Vaginalringe mit Etonogestrel) bis hin zu 2,0 (Norelgestromin-Pflaster). Ähnliche Zusammenhänge galten für Depression als Diagnose. Besonders gefährdet waren junge Frauen zwischen 15 und 19 Jahren, die Kombinationspräparate (RR 1,8) oder Kontrazeptiva mit Progestinen (RR 2,2) erhielten. Sechs Monate nach Einnahmebeginn erreichte das Risiko, an Depressionen zu erkranken, ein Maximum. Die Veröffentlichung wirft mehrere Fragen auf. Skovlund und Lidegaard vermuten einen kausalen Zusammenhang zwischen Depression und Hormonen, beweisen ihn aber nicht. Kohortenstudien haben ein erhebliches Potenzial für Störfaktoren. Im Mittelpunkt steht die Frage, aus welchen Gründen Frauen hormonell verhüten und wer sich beispielsweise gegen die Pille, aber für nichthormonelle Methoden der Geburtenkontrolle entscheidet. Offen bleibt auch, ob Faktoren wie feste Beziehungen eine Rolle spielen. Diese Faktoren könnten ebenfalls mit Depressionen assoziiert sein. Nicht zuletzt kritisieren Ärzte wenig praxistaugliche relative Risiken. Denn gemessen an absoluten Zahlen bleibt die Gefährdung überschaubar. In Dänemark erhalten 1,7 Prozent aller Frauen unabhängig von ihrer Verhütung Antidepressiva. Unter hormonellen Kontrazeptiva liegt der Wert bei 2,2 Prozent.
Depressionen sind aber nur ein Aspekt aus dem weiten Bereich psychischer Störung, die mit Hormonpräparaten in Zusammenhang stehen. Christian W. Wallwiener aus Tübingen untersucht seit Jahren, ob die „Pille“ sexuelle Dysfunktionen auslöst. Bereits im Jahr 2010 veröffentlichte er Ergebnisse einer Studie mit rund 1.000 Medizinstudentinnen aus Deutschland. Wallwiener erfragte Details über den Female Sexual Function Index (FSFI). Gleichzeitig erfasste er, wie verhütet wurde. Unter hormoneller Verhütung fand der Forscher deutlich höhere Risiken für eine sexuelle Dysfunktion. Kürzlich veröffentlichte Daten bestätigen Wallwieners Erkenntnis. Seine neue Kohorte umfasste 2.612 Medizinstudentinnen bis zum Alter von 30 Jahren. Gleichzeitig erfasste der Forscher weitere Einflussfaktoren. Sein Fazit: Rund 40 Prozent aller Medizinstudentinnen sind gefährdet, eine sexuelle Dysfunktion zu entwickeln. Zu den Risikofaktoren gehören in erster Linie hormonelle Kontrazeptiva. (Weitere Risikofaktoren sind Nikotinkonsum, Übergewicht, das Fitnesslevel sowie der Beziehungsstatus.)
Schlechte Noten für Addyi in allen Bereichen: Das National Women’s Health Network spart nicht an Kritik. © NWHW / Screenshot: DocCheck Ganz klar, dass sie Frauen – aber auch deren Partner – eine andere Pille wünschen, um die Lust anzukurbeln. Für pharmazeutische Hersteller ist das Thema eine Steilvorlage. Letztes Jahr gab die US Food and Drug Administration (FDA) nach mehreren Anläufen grünes Licht für Flibanserin. Der Serotonin-Modulator soll bei Patientinnen mit Hypoactive Sexual Desire Disorder (HSDD) zum Einsatz kommen. Valeant setzte parallel auf massive Kampagnen in der Öffentlichkeit und verbreitete Euphorie. Wissenschaftlich betrachtet sieht die Sache deutlich schlechter aus. Loes Jaspers aus Rotterdam untersuchte, welchen Effekt Addyi® wirklich zeigt. Basis waren Daten von 5.914 Frauen. Die vermeintliche Lustpille führte lediglich zu einer weiteren befriedigenden sexuellen Erfahrung innerhalb von zwei Monaten, schreibt Jaspers. Er spricht von „minimalen Veränderungen“. Gleichzeitig litten viele Patientinnen an Schwindel, Übelkeit, Erschöpfung und Schläfrigkeit. Noch deutlichere Worte fand das National Women’s Health Network. „Klinische Studien zeigen mittlerweile, dass neun von zehn Frauen keine Verbesserung ihres sexuellen Verlangens spüren“, heißt es in einem Report. Kritisiert werden fehlende Studien, aber auch fehlende Informationen zu Wechselwirkungen. Die „Pille gegen die Pille“ hat kaum zu Verbesserungen in der Praxis geführt.