Ihr Erfinder wurde mit dem Nobelpreis belohnt. Ganze Kliniken wollten mit der Technik den Menschen verjüngen und damit viel Geld verdienen. Doch die Zucht von beliebigem Körpergewebe aus Retorten-Stammzellen scheint nicht immer so zu funktionieren wie gewünscht.
Die Veröffentlichung aus Japan erweckt den Eindruck, als sei man nicht mehr weit weg von der induzierten Herzheilung nach einem Infarkt. Keine Mäuse, sondern Affen – Makaken – dienten als Modellobjekt für eine Reparatur des Herzmuskels mittels induzierter Stammzellen (iPSC). Hat man eine Anwendung am Menschen im Hinterkopf, dürfte im Ernstfall aber kaum genug Zeit bleiben, um eine Herzmuskel-Kultur aus den körpereigenen Stammzellen mit genug Material zu gewinnen. Das Tiermodell nimmt darauf Rücksicht. Denn die Hautfibroblasten stammten nicht aus dem selben Affen sondern aus einem Verwandten mit nur teilweiser Übereinstimmung im Histokompatibilitätskomplex.
Der heterozygote Empfänger empfing die aus iPSC gewonnenen Herzmuskelzellen von einem homozygoten Spender. Nach einer Herzattacke integrierten sich die Spenderzellen in den Herzmuskel und schlugen nicht nur synchron mit den benachbarten Zellen, sondern halfen auch mit, die Kontraktion des geschädigten Herzens wieder zu verbessern. Allein mit einer milden Immunsuppression registrierten die Wissenschaftler auch nach drei Monaten keine Abstoßung. Kardiomyozyten regenerieren das Herz eines haploidentischen Affen nach einem Herzinfarkt via iPSC© Yuji Shiba, Nature 2016
Können sich Herzkliniken auf baldige neue Reparaturmethoden freuen? Vielleicht schon in den nächsten Jahren? Schon einmal gab es vor einigen Jahren einen Stammzell-Hype, der trotz strengerer Regulation bisher noch nicht zum Stillstand gekommen ist. Auch in Deutschland versprechen und versprachen „Stammzell-Kliniken“ zum Teil das Blaue vom Himmel für ihre Patienten, die sich ganz auf die wunderbaren Fähigkeiten der „Jungbrunnenzellen“ verließen. Es gab Tote, aber kaum Meldungen über wirkliche Erfolge. Zehn Jahre ist es jetzt her, seitdem die Gruppe um Shinya Yamanaka eine Methode entdeckt hatte, differenzierte und spezialisierte Zellen wieder in eine ursprüngliche Form zurückzuverwandeln. Mit einer Handvoll Wachstumsfaktoren war die „induzierte pluripotente Stammzelle“ geboren, aus der sich wieder fast jede Art von Gewebe züchten ließ. iPSC schienen die ewigen ethischen Diskussionen um die Verwendung von embryonalen Stammzellen aus Aborten umgehen zu können – außerdem auch noch das Problem einer Abstoßungsreaktion, weil beim Gewebeersatz am Ende eine autologe Transplantation steht. Es dauerte noch gut sechs Jahre, bis Wissenschaftler konkret über die ersten klinischen Studien mit diesen Zellen nachdachten. Es sollte die Behandlung einer Frau mit altersbedingter Makuladegeneration im japanischen Kobe sein. Am 12. September 2014 bekam die Patientin die zu retinalem Pigmentepithel differenzierten Stammzellen. Ergebnis: Keine Abstoßung, besseres Sehvermögen. Danach stoppten die Studienorganisatoren jedoch weitere Versuche.
Zehn Jahre nach dem verheißungsvollen Start sind die Erwartungen einer Realität gewichen, die den Forschern etliche Hindernisse in den Weg zur Routine in der regenerativen Medizin legt. In der Forschung haben sich in den letzten Jahren immer mehr Labors mit diesen Zellen beschäftigt und viele Experten fragen sich, ob die Zellen im dem einen Labor wirklich die gleichen Eigenschaften wie in dem der Kollegen aufweisen. „Die größte Herausforderung“, so zitiert Nature Jeanne Loring vom kalifornischen Scripps Forschungsinstitut, „ist jene, alle auf die gleiche Stufe der Qualitätskontrolle zu bringen.“ Noch immer erschienen ständig neue Publikationen mit Ergebnissen, sich nicht wiederholen ließen. Bei der Studie der japanischen Ophtalmologen zogen Wissenschaftler die Notbremse. Sie hatten in den betreffenden Stammzellen für den zweiten und dritten Patienten zwei kleine Mutationen entdeckt. Obwohl sie das mögliche Tumorrisiko als gering einschätzten, stoppten sie die Studie erst einmal. iPSC scheinen zur Enttäuschung vieler anfänglicher Enthusiasten sich doch stärker von embryonalen Stammzellen zu unterscheiden als gedacht. Sie besitzen allem Anschein nach ein „epigenetisches Gedächtnis“, in dem ihre Herkunft gespeichert ist. Spielt das nach ihrer weiteren Differenzierung eine Rolle? Darauf gibt es bisher keine Antwort. Die Reprogrammierung aus Haut- oder anderen Zellen verläuft ziemlich ineffizient und es scheint, als würden sich die dabei gewonnen Stammzellen in ihren Eigenschaften alle ein wenig unterscheiden - keine gute Basis für einen Vergleich der Experimente aus verschiedenen Labors oder zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Robert Lanza, Stammzellforscher des Astellas Instituts für Regenerative Medizin in Massachusetts, mahnt zur Geduld und Vorsicht: „iPSC sind die komplexesten und dynamischsten Therapien, die jemals für die Klinik vorgeschlagen wurden.“
Nicht nur für die Klinik versprechen sich viele Mediziner von iPSC einen großen Erfolg. Auch in der medizinischen Forschung sollen sie zu einem wichtigen Werkzeug bei der Aufdeckung von Krankheiten und der Entwicklung von Wirkstoffen werden. Schon 2012 fanden etwa Wissenschaftler bei einem Screen unter 7.000 Substanzen einen möglichen Wirkstoff gegen die seltene, aber tödliche Erbkrankheit „Familiäre Dysautonomie“. Die Modellzellen waren Neuralleistenzellen aus iPSC. Einen ähnlichen Erfolg berichteten Forscher von Pfizer bei der Schmerzempfindlichkeitsstörung der erblichen Erythromelalgie, wo der gefundene Wirkstoff nicht nur die anormal hohe Reizbarkeit von Nervenzellen aus iPSC linderte, sondern auch die Schmerzempfindung des Patienten. Zusammen mit dem Gen-Editing-Werkzeug CRISPR-Cas9 hoffen Wissenschaftler auf noch wesentlich mehr Krankheitsmodelle. Dazu gehört unter anderem auch die Produktion von „Organoiden“, kleinen Organen in der Kulturflasche mit Hilfe von Stammzellen. Mit der Hilfe von Mini-Gehirnen gelang beispielsweise der Nachweis, dass das Zika-Virus eher neuronale Stammzellen als fertige Neuronen infiziert. Die logische Folge eines solchen Neuronen-Nachschub-Blocks ist dann eine Mikroenzephalie. Transmissions-elektronenmikroskopische Aufnahmen zeigen Zika-Viren an einer Membran von neurogenem Gewebe, das aus iPSC stammt.© D'Or Institute for Research and Education (IDOR)
Noch etliche weitere Erfolge hat die Geschichte der iPSC auf der Liste, bisher meist jedoch eher im Labor als im Krankenhaus. So viele, dass sich die internationale Gesellschaft für die Forschung an Stammzellen ISSCR zur Herausgabe von Leitlinien über die Berichterstattung ihrer Forschung veranlasst sah. Sie ruft darin ihre Mitglieder auf, bei allem Streben nach limitierten Forschungsgeldern allzu optimistische Äußerungen über ihre Forschungsergebnisse zu unterlassen. Besonders dann, wenn ein anderes Labor den entsprechenden Befund noch nicht verifiziert hat. Wenn es gerade bei der praktischen Anwendung der Stammzell-Forschung immer weniger um ethische Fragen sondern nur mehr um das das „Wann“ in der Klinik gehe, sei das eine bedenkliche Richtung. Der Kontakt mit den Medien sollte deswegen nicht allein den PR-Abteilungen der Institute überlassen sein, sondern immer noch unter der Kontrolle der Forscher stehen und nicht auf eine kommende Wunderwelt der Stammzell-Technologie hinweisen. Trotzdem, so räumt das Expertengremium ein, sei ein natürlicher Optimismus selbstverständlich ein notwendiger Antrieb für weitere Anstrengungen im Labor.
Auch bei dem verheißungsvollen Experiment der allogenen Transplantation von Kardiomyozyten aus Stammzellen funktionierten zwar die eingewanderten neuen Zellen, jedoch traten häufiger als normal Arrhythmien im Affenherz auf. Gerade wegen dieser noch unkalkulierbaren Probleme und der möglichen Tumorgefahr bei der Übertragung ausdifferenzierter Stammzellen durch einzelne übriggebliebene teilungsfreudige Stammzellen interessieren sich immer mehr Forscher für die direkte Umwandung von einer Zellform in die andere ohne den Stammzell-Umweg. Im April dieses Jahres publizierte eine Forschergruppe vom kalifornischen Gladstone-Institut ein ganz ähnliches Experiment wie die chinesische Gruppe – nur im Maussystem. Hier wurden aus Fibroblasten direkt Herzmuskelzellen – ohne die Produktion von iPSC. Ähnlich positive Resultate kommen auch von anderen Gruppen. Harvard-Forscher machten etwa aus Leberzellen pankreatische insulinproduzierende Betazellen. Zehn Jahre nach der ersten induzierten pluripotenten Stammzelle entwickelt sich die Technologie immer weiter in Richtung Klinik. Die Studie an Patienten mit Makuladegeneration soll bald wieder aufgenommen werden, weitere Studien etwa mit Parkinson-Patienten stehen kurz vor dem Start. Ob der Einsatz von induzierten Stammzellen bei einer vorläufigen Kostenschätzung im sechsstelligen Bereich pro Patient überhaupt eine Chance für den Routineeinsatz hat, ist überhaupt nicht klar. Aber möglicherweise sorgen dann Stammzell-Banken für das notwenige Material. Die direkte Um-Differenzierung von somatischen Körperzellen steht noch ganz am Anfang der Präklinik. Beiden Techniken gemeinsam ist aber die Tatsache, dass nach vielen Jahren der Arbeit immer noch nicht klar ist, was eigentlich mit den Zellen während ihrer Metamorphose geschieht. Bei einer durchschnittlichen Laufzeit von 20 Jahren von der Entdeckung eines Therapieprinzips bis zum regelmäßigen Einsatz am Patienten bleibt Forschern und Ärzten aber immer noch ein ganzes Stück Zeit, um das herauszufinden.