Um weiter Kosten zu reduzieren und den Gewinn zu erhöhen, gibt es für Ärzte ständig neue Formulare, Guidelines oder Krankenhaussoftware. Das alles erschwert den Alltag in der Klinik und geht irgendwann an die Substanz. Manche Ärzte wählen den Tod.
Dr. Andrew Bryant hat sich einen Lebenstraum erfüllt. Er ist angesehener Gastroenterologe in Brisbane, er hat eine liebevolle Familie mit Frau und vier Kindern. Es scheint alles perfekt.
Jahrelang arbeitet er erfolgreich in seiner Privatpraxis, er spezialisiert sich auf die Entfernung großer Polypen und führt endoskopische Mukosaresektionen bei seinen Patienten durch. Bryant interessiert sich auch für Militär- und Flugmedizin. Doch sein größtes Hobby sind seine vier Kinder. Gerne packt er sie in den Kindersitz und unternimmt mit ihnen Fahrradtouren durch die australischen Weiten. Er fährt an den Strand, spielt mit ihnen und lächelt dabei fröhlich in die Kamera seiner Frau. Seine Patienten beschreiben ihn als hilfsbereiten und sehr professionellen Arzt mit einer einfühlsamen Ader. Er zählt zu den 5 Top-Gastroenterologen in Brisbane. Und doch ist alles nur scheinbar perfekt.
Der medizinische Erfolg birgt auch Schattenseiten und die erfährt der australische Doktor Anfang des Jahres. Seiner Frau Susan fallen zunächst seine Schlafprobleme auf: „Seit Ende Februar schlief er nicht mehr gut, aber er war nie ein großer Schläfer“ erzählt sie. „Er war sehr beschäftigt mit seiner Arbeit, aber er war ja immer beschäftigt“. Im Nachhinein kommen Susan die Veränderungen ihres Mannes eindeutig vor. Doch damals fielen sie ihr kaum auf. Sie sah nicht kommen, was drei Monate später folgen würde. „Bryant war Arzt, er war immer von medizinischem Personal umgeben. Jeden Tag. Seine Eltern waren beide Psychiater, zwei seiner Brüder sind Ärzte und seine Schwester ist eine Krankenschwester in der Psychiatrie – doch niemand von ihnen sah es kommen.“
Niemand sah es kommen
Kurz vor Ostern wurde der Gastroenterologe vermehrt angespannt – er machte sich Sorgen über seine Privatpraxis, darüber mit der Büroverwaltung hinterher zu sein, über die Finanzen, über manche seiner Patienten und über seine ärztlichen Fähigkeiten.
Er kam seiner Frau entmutigt und unkommunikativ vor. Sie tat alles, um ihm zu helfen und zu entlasten, doch Susan war auch verwirrt. Bryant war immer sehr beschäftigt in seiner Praxis, aber es lief doch genauso wie die letzten 20 Jahre auch. Der Arzt war das ganze Osterwochenende über total erschöpft und die Woche danach stand sein Bereitschaftsdienst für die öffentlichen Krankenhäuser an. Dies sollte sich als schlimmste Notdienstwoche herausstellen, die Bryant je erlebt hatte: Er wurde jede Nacht gerufen, manche Nächte sogar drei- oder viermal hintereinander und tagsüber musste er noch seine eigenen Patienten betreuen und die Endoskopieliste abarbeiten.
„Er verpasste das Geburtstagsessen von unserem Sohn Nick und auch jedes andere Abendessen in dieser Woche“ erzählt Susan traurig. Gegen Ende der Woche, es war ein Freitag, war Bryant richtig erschöpft, er konnte immer noch nicht richtig schlafen und war einfach nur platt. Seine Frau macht sich immer mehr Sorgen um ihn, doch er ist dafür unempfänglich. Susan drängt ihren Mann, jemanden wegen seiner Schlafprobleme aufzusuchen, doch er will davon nichts hören. Der Gastroenterologe sieht weiter seine Patienten, arbeitet sich durch die Endoskopielisten, geht zur Arbeit und ist immer erst sehr spät daheim. Am Dienstag Abend kommt er schließlich sehr aufgebracht und den Tränen nahe nach Hause: Ein Patient von ihm ist verstorben. Seine Frau erinnert sich: „Andrew war immer bestürzt, wenn einer seiner Patienten starb, aber diesmal war seine Reaktion auf die Belastung ganz anders.“
Kratzen an der Oberfläche
„Im Nachhinein betrachtet waren alle Zeichen einer Depression da“, meint Susan. Doch bis dahin kann niemand glauben, dass der angesehene Gastroenterologe nicht mehr kann. Niemand sieht kommen, was in der ersten Maiwoche passiert. Dr. Bryant geht ganz normal zur Arbeit, doch abends kehrt er nicht mehr nach Hause zu seiner Familie zurück. Er nimmt sich in seinem Büro das Leben. Sein Tod schockiert Familie, Freunde und Kollegen. Seine Frau Susan entschließt sich eine emotionale E-Mail an sie zu schreiben, denn sie möchte aus dem Tod ihres Mannes kein Geheimnis machen. „Ich möchte nicht verheimlichen, dass Andrew Suizid begangen hat“, schreibt sie darin.
„Wenn mehr Leute darüber sprechen, was zu einem Selbstmord geführt hat, wenn sie nicht darüber sprechen, als wäre er etwas Beschämendes, wenn Leute verstehen, wie leicht und schnell Depressionen jemanden überwältigen können, dann könnte es vielleicht weniger Todesfälle geben.“ Susan fügt hinzu: „Seine vier Kinder und ich schämen uns nicht dafür, wie er gestorben ist.“
Sie bittet ihre Freunde die E-Mail mit Andrews Geschichte weiterzugeben an alle, die fragen wie er gestorben ist, aber auch an alle anderen, die es vielleicht wissen möchten oder denen es helfen könnte. Susans Kinder veröffentlichen sie auch auf Facebook, um darauf aufmerksam zu machen. Und die E-Mail geht um die Welt. Innerhalb kurzer Zeit lesen Tausende von Andrew Bryants Selbstmord und sprechen ihr Beileid aus oder teilen ihre eigenen Erfahrungen. „Es ist ein großes Problem in der Medizin und ich wurde von so vielen Ärzten kontaktiert, vor allem von denen, deren Kollegen Suizid begangen haben“, erzählt Susan Bryant.
„Es ist als ob ich an der Oberfläche von etwas Großem gekratzt habe… Leute schreiben mir, dass sie nie über einen Suizid reden konnten, weil es immer noch so ein großes Tabuthema ist.“ Andrews Sohn John ruft dazu auf, besser auf seine Angehörige zu achten: „Seht nach, ob es ihnen gut geht. Es könnte einen riesengroßen Unterschied machen... lasst es kein Tabu sein.“
Arbeit beeinflusst Privatleben
So wie Dr. Bryant geht es vielen Ärzten. Einige kommen mit dem Druck und dem Stress in der Medizin nicht mehr zurecht und nehmen sich schließlich das Leben. Andere bekommen gerade noch die Kurve und suchen sich rechtzeitig Hilfe. Viele Ärzte kennen das Gefühl durch dunkle Zeiten zu gehen.
Depressionen, Angespanntheit, Burn-Out, Suizidalität, Hoffnungslosigkeit, Lethargie, Freudlosigkeit, Ängste und Sorgen – das alles sind Gefühle mit denen die meisten Mediziner schon einmal in ihrem Leben konfrontiert wurden. Die wenigsten haben ernsthafte Suizidgedanken, aber viele kennen die negativen Reaktionen auf interne oder externe Stressfaktoren. Nicht nur in der Praxis, auch im Krankenhaus leiden viele Mediziner darunter. Besonders die Arbeit ist häufig der kritische Faktor. Da Ärzte nun mal den Großteil ihres Lebens auf der Arbeit verbringen, beeinflusst die Arbeit fast alle anderen Aspekte des Lebens wie Familie und Sozialleben. Wie kommt es aber dazu, dass manche keinen anderen Ausweg mehr sehen als sich das Leben zu nehmen?
Ein Grund dafür könnte in unserem immer mehr auf Profit ausgelegten Gesundheitssystem liegen. Das Krankenhaus ist kein Ort der Barmherzigkeit und Nächstenliebe mehr, sondern entwickelt sich immer mehr zu einer Industrie, die rein wirtschaftsorientiert arbeiten muss. Der australische Chirurg Dr. Eric Levi identifiziert drei daraus resultierende Faktoren, die Ärzte in Depressionen und Burn-Out treiben.
1. Kontrollverlust über die Arbeit
2. Verlust von Unterstützung durch Familie und Freunde
3. Bedeutungsverlust der Medizin
Wie Guidelines, Prüfungen und Fürsorgepflicht an die Substanz gehen
Als jemand der 24 Stunden 7 Tage die Woche Bereitschaft hat, insgesamt 12 von 14 Tagen, beschreibt der Chirurg einen allmählichen Verlust der Kontrolle über seine Arbeitstage. Wenn er sich auf seine chirurgischen Prüfungen vorbereitete, arbeitete er von 6:30 Uhr bis 22 Uhr abends jeden Tag und sah seine Familie nur am Wochenende zum Mittagessen. Er arbeitete in einem Krankenhaus, in dem er für einige Zeit tagelang nicht nach Hause kam und im Bereitschaftszimmer oder seinem Auto übernachten musste. Er hatte immer seinen Schlafsack und Umziehklamotten im Kofferraum, weil er nie wusste, ob er es in diesen Nächten nach Hause schaffen würde.
Jeden Tag konnten Pläne aufgrund eines Notfalls umgeworfen werden, er war nie sicher was die nächste Stunde brachte, wenn er Notdienst hatte. Er konnte nicht weniger arbeiten, denn wer sollte sich sonst um die Patienten kümmern? Das Krankenhaus beschäftigte nicht mehr Ärzte und die Kranken konnten schließlich nicht unversorgt bleiben. Dr. Levi musste die Tatsache akzeptieren, dass er eine Fürsorgeverantwortung hat, die er nicht einfach aussetzen kann, wenn er müde ist.
Doch auch das Gesundheitssystem an sich trägt zum Schaden bei. Jeden Tag gibt es ein neues Formular, eine neue Guideline, ein neues Protokoll, eine neue Krankenhaussoftware oder eine neue Politik, die jegliches klinische Arbeiten diktiert und einschränkt. Manche der bürokratischen Vorschriften werden von Leuten geschrieben, die noch nie einen Patienten gesehen haben. Eine ganze Industrie widmet sich der Umgestaltung von dem, was Ärzte und Krankenpflegepersonal zu tun und zu lassen haben, um immer weiter Kosten zu reduzieren und den Ertrag zu erhöhen. Das geht irgendwann an die Substanz der Ärzte und die Leidtragenden sind Personal und Patienten.
Arbeitsalltag eines Chirurgen
Um zu verstehen, wie so etwas jemanden zur blanken Erschöpfung bringen kann, muss man sich den typischen Arbeitsalltag des Chirurgen ansehen: Sein Tag startet gewöhnlich um 6 Uhr morgens. Dr. Levi wacht auf, weil ihn eine E-Mail daran erinnert, dass er noch einige Entlassungsberichte vom Vortag zu Ende schreiben muss. Schnell macht er sich fertig. Um 7 Uhr beginnt die Visite.
Er sieht 15-20 Patienten und es stapeln sich zahlreiche Formulare und Anträge, die ausgefüllt werden müssen. Genervt setzt er sich an den Computer und verflucht das klobige und alles andere als benutzerfreundliche System, das ewige Zeiten braucht, bis er sich einloggen kann. Er ruft stattdessen die völlig überbuchte OP-Liste für den Tag auf. Um 8 Uhr muss er im Operationssaal sein. 7 Patienten stehen auf seiner Liste.
Dr. Levi ist frustriert, denn er hat keinen Einfluss darauf, wer auf die OP-Liste kommt oder in welcher Reihenfolge die Patienten operiert werden. Die ersten Patienten wurden noch nicht überprüft. Also muss er das schnell nachholen. Doch alles ist chaotisch. Der diabetische Patient ist hypoglykämisch, das Kleinkind ist quengelig, das autistische Kind rennt weg. Der Dolmetscher für den ausländischen Patienten ist auch noch nicht hier. Schnell einen Blick zum PC. Der Computer hat ihn immer noch nicht ins System eingeloggt. Das Passwort ist abgelaufen. Mist.
Dr. Levi konnte früher einmal die OP-Liste ändern, weil er aus ärztlicher Sicht beurteilen kann, dass manche Operationen länger dauern als andere und bestimmte Patienten davon profitieren eher dranzukommen. Aber jetzt hat die Verwaltung entschieden, dass alle Tonsillektomien genau 14 Minuten dauern müssen – denn das ist die erfasste Durchschnittszeit im Computer. Die Schaltuhr startet, wenn er sich einwäscht und stoppt, wenn er den OP-Saal verlässt. Klick. Klick. Klick. Da der Computer aber nicht die Zeit erfasst, die der Dolmetscher ins Krankenhaus braucht, die die OP-Vorbereitung in Anspruch nimmt oder die der Weg zur Intensivstation auffrisst, ist Dr. Levi schon jetzt zu spät dran.
Die OP-Schwester guckt säuerlich und mahnt den Chirurgen ja rechtzeitig fertig zu werden. Dr. Levi schafft seine 14 Minuten für die Mandelentfernung, trotzdem hat das OP-Team Verspätung wegen unvorhersehbarer externer Gründe. Jeder ist angespannt und will schnell fertig werden, alles wird gehetzt und übereilt fertig gemacht.
Fehler vorprogrammiert
In so einer Situation sind Fehler vorprogrammiert. Kaum ist der Chirurg verspätet aus dem OP, zeigt ein Blick aufs Diensttelefon 12 verpasste Anrufe von Angehörigen und Ärzte anderer Stationen. Doch es warten bereits drei Patienten für Dr. Levi auf seiner Station und einer wird gerade von einem anderen Krankenhaus eingeflogen.
Schnell eilt er auf die Station und schluckt auf dem Weg eine Tasse aufgewärmten Instant-Kaffee hinunter. Schließlich kommt er völlig zu spät in der Klinik an, die wieder mal überbelegt ist. Die Krankenschwestern sind unglücklich darüber, doch ändern kann er nichts. Der Arzt sieht jetzt zwischen 8-10 Patienten. Er bespricht komplizierte chirurgische Eingriffe, wird aber immer wieder von Papierkram und Anrufen unterbrochen. Kaum bahnt sich eine Verschnaufpause an, klingelt mal wieder das Diensttelefon. Schnell muss der Chirurg zum OP eilen, denn er wurde für einen Notfall gerufen. Zu diesem Zeitpunkt begibt sich Dr. Levi auf gefährliches Eis.
Fehler sind schneller gemacht, als er sich vorstellen kann. Er ist müde, launisch und sein Kopf explodiert voller Aufgaben, die er noch erledigen muss. Trotzdem hält er durch. Zeit für Mittagessen hat er nicht, stattdessen beginnt um 14 Uhr die Nachtmittagsvisite, in der der Arzt viele weitere Patienten sieht und Briefe diktiert. In so einem 24-Stunden-Dienst nimmt er selten weniger als 70 Anrufe entgegen. Um 18 Uhr ist er schließlich völlig erschöpft. Doch der Tag ist noch längst nicht vorbei.
Dr. Levi schnappt sich eine Packung Chips und eine Ingwer-Limonade und beginnt mit der restlichen Schreibarbeit, die er für heute erledigen muss. Er prüft auch die Fälle der nächsten Tage. Obwohl er mit der Arbeit längst nicht fertig ist, geht er um 20 Uhr nach Hause. Isst zu Abend und bringt die Kinder ins Bett. Doch da wird er wieder angerufen: ein Notfallpatient, er soll so schnell wie möglich in den OP. Kurz nach Mitternacht kann er wieder nach Hause und schläft erschöpft ein. In dieser Nacht wird Dr. Levi noch vier weitere Male in den OP gerufen.
Hier geht es weiter zu Teil II.