"Sie sind meine letzte Hoffnung!" Diese Eröffnungsworte bei einem Erstkontakt lösen bei mir immer unterschiedliche Gefühle aus. In diesem Fall konnte ich mit einer einfachen Denkweise wirklich helfen.
Vor einigen Monaten stellte sich Herr Schröder erstmals in meiner Sprechstunde vor. Er kam aus einer ca. 50 km entfernten Stadt und breitete mehrere Röntgentüten und einen Ordner mit Befunden auf meinen Schreibtisch aus. Sofort flogen mehrere Gedanken durch meinen Kopf. „Dafür hast Du ja gar keine Zeit“, „Das wird ewig dauern!“, „Die Sprechstunde ist wegen der vielen kleinen Notfälle und dringlichen Fragen an einem typischen Montagmorgen schon in Verzug“, aber auch: „Das kann ein interessanter Fall werden, bei dem ich helfen kann!“.
Ich, zur letzten Hoffnung ernannt
Während Herr Schröder mir anfangs etwas konfus zu vermitteln versuchte, warum ich als wohl achter Arzt (davon die Hälfte HNO-Kollegen) die letzte Hoffnung sein sollte, verschaffte ich mir mit gezielten Nachfragen und raschem Querlesen der Befunde einen Überblick.
Herr Schröder litt seit einigen Monaten an immer häufiger auftretenden Doppelbildern bei Augenbewegungen. Er sei schon bei zwei niedergelassenen HNO- Ärzten in seiner Heimatstadt, einer HNO-Universitätsklinik, beim CT, MRT, einem Neurologen und natürlich bei einem Augenarzt gewesen. Keiner konnte sich die Beschwerden erklären. Immerhin hatte noch kein Kollege behauptet, er würde sich das nur einbilden.
Ich schaute mir die Röntgenbilder an. Im Bereich des Gehirns und der Augentrichter keine Auffälligkeiten. Die knöchernen Begrenzungen intakt.
Das ist doch etwas!
"Diese komplette Verschattung im Bereich der Siebbeinzellen sind doch aber bestimmt gesehen worden, oder?", fragte ich Herrn Schröder. Natürlich, aber die seien wohl nicht dafür verantwortlich, weil ja noch genug unauffällige Gewebeschichten dazwischen lägen.
Und tatsächlich: Die sehr dünne knöcherne Begrenzung zwischen dem Siebbein und des Augentrichters, passenderweise Lamina papyracea (papierdünne Platte) genannt, war in der Computer-Tomographie ebenso intakt, wie das Periost (Knochenhaut) in der MRT reizlos. Ein infiltrativ wachsender Tumor oder eine sich ausbreitende Entzündung (sinugene Orbitaphlegmone) waren also ausgeschlossen worden.
„Ich habe dreimal Antibiotika bekommen, monatelang cortisonhaltiges Nasenspray, Schleimlöser und inhaliert. Keine Besserung. Die Uni-Klinik hat mich wieder weggeschickt, weil eine Operation wohl auch nicht helfen würde.“
Diverse Untersuchungen bei Augenärzten und Neurologen, incl. einer Lumbalpunktion, waren ebenfalls ohne richtungsweisendes Ergebnis gewesen. Eine unklare Parese eines Augenmuskels war die einzige Vermutung.
Alles auf Anfang
Mir kam eine irrwitzige Idee: Ob es vielleicht doch das Naheliegenste wäre.
„Herr Schröder, ich rate Ihnen zu einer Siebbein-Operation. Auch wenn ich Ihnen nicht garantieren kann, dass Ihre Doppelbilder nach dem Eingriff verschwinden, erscheint mit diese Maßnahme sinnvoll. Wenn man Ihre Beschwerden gegen die allgemeinen Risiken der Operation abwägt, ist das aus meiner Sicht die logische Entscheidung.“
Herr Schröder war sehr erleichtert, dass nun jemand wenigstens einen handfesten Versuch unternehmen würde, ihm zu helfen.
Noch doppelsichtig?
Die patho-histologische Aufarbeitung des entnommenen Gewebes hatte ergeben, dass sich ein invertiertes Papillom gebildet hatte. Die Doppelbilder waren gleich am Nachmittag der Operation verschwunden.
Gestern, drei Monate nach der letzten postoperativen Nachbehandlung, kam Herr Schröder erneut zu mir. Routine-Kontrolle. Wir werden jetzt in den kommenden Jahren regelmäßig endoskopisch seine Nasennebenhöhlen untersuchen. Das invertierte Papillom könnte wieder auftreten. Er ist weiterhin beschwerdefrei und nimmt die Fahrzeit in unsere Praxis gerne in Kauf.
„When you have excluded the impossible, whatever remains, however improbable, must be the truth.“, sagte einst Sherlock Holms.
Manchmal sollte man an das denken, was am naheliegensten ist.