Ein Mann verklagt den Impfstoff-Hersteller, weil er in einer Hepatitis-B-Impfung die Ursache seiner MS-Erkrankung sieht. Vor Gericht sind seine Argumente: zeitlicher Zusammenhang und fehlende Vorerkrankung. Die Wissenschaft schüttelt den Kopf. Nicht aber das Gericht, das gibt ihm Recht! Mein Versuch, den Fall zu verstehen, gleicht einer Arschbombe ins Spannungsfeld zwischen Recht und Medizin.
Als Medizinerin und Kind einer Juristen-Familie wurde ich bei folgender Meldung hellhörig: „Der Europäische Gerichtshof spricht Patient Anspruch auf Schadensersatz wegen Impfschaden zu – ohne Beweise!“ (So in etwa lautete der Aufmacher eines Zeitungs-Artikels.) Der Aufschrei ist groß. Das Urteil sei haltlos, man verunsichere die Bevölkerung und öffne so Impfgegnern bei ihrer Panikmache Tür und Tor.
Ich bin skeptisch. Ganz so haltlos kann das doch eigentlich nicht sein. Was genau ist da passiert? Ich hab mir das Urteil des EuGHs rausgesucht und gelesen (leichter gesagt als getan – unfassbar, wie Juristen ein Satzende rausschieben können …) Mit den Juristen in meiner Familie hatte ich danach hitzige Diskussionen. Die Frage, die bis zum Ende bleibt: Wie kann eine Vermutung von Laien den Richtern am Ende eines Gerichtsverfahrens plausibler erscheinen als der aktuelle Stand der Forschung? Was ist da passiert, dass die Wissenschaft nicht ausreichend Wissen schaffte?
Worum geht es eigentlich?
Der Franzose J.W. erhält im Dezember 1998, Januar und Juli 1999 jeweils eine Injektion zur Impfung gegen Hepatitis B. Einen Monat später zeigen sich bei ihm erste Symptome von Multipler Sklerose. 2000 manifestiert sich diese Diagnose und bereits ein Jahr später ist J.W. arbeitsunfähig. 2006 reicht er Klage gegen das Pharmaunternehmen ein, weil er in der Impfung den Auslöser der Krankheit sieht. Wissenschaftlich gesehen gibt es dafür keine Anhaltspunkte. Man sollte meinen, dass J.W. stichhaltige Beweise liefern muss, um damit Erfolg zu haben. Aber wie weist man im Nachhinein stichhaltig den Auslöser einer Krankheit nach, deren Auslöser bisher nicht bekannt sind? Unmöglich, erst recht für medizinische Laien.
Franzosen schützen David im Kampf gegen Goliath
Speziell für den Bereich Arzneimittelhersteller-Haftung gibt es aber nach französischer Rechtsprechung besondere Regeln, wenn es um den Beweis geht, dass ein Impfstoff fehlerhaft und dadurch Ursache für Schäden an Patienten ist. Nach dieser Rechtsprechung reicht es aus, dass der Patient eine „ernsthafte, klare und übereinstimmende Vermutung“ vorträgt, die vom Gericht als plausibel empfunden wird. Im Rechtsstreit gegen Pharmafirmen stärkt man so Patienten den Rücken.
Durch alle Instanzen
Auf Grundlage dieser Argumentation gewinnt der Patient zunächst vor dem Regionalgericht. Dieses findet, dass der zeitliche Zusammenhang und die fehlende familiäre Vorbelastung als Indizien für eine „ernsthafte, klare und übereinstimmende Vermutung“ ausreichen.
Bis 2014 geht der Fall jedoch durch verschiedenste Instanzen. (J.W. selbst bekommt davon nichts mehr mit, er verstirbt 2011 an den Folgen seiner Krankheit.) Ein Berufungsgericht hebt das erste Urteil auf, das Kassationsgericht – eine noch höhere Instanz – kritisiert seinerseits das Berufungsgericht, woraufhin der Fall neu begutachtet wird. Daraufhin fällt ein Urteil, das auf medizinisch wissenschaftlicher Argumentation basiert:
Wissenschaftlich gesehen ist der Zusammenhang zwischen Impfung und MS extrem unwahrscheinlich. Juristisch gesehen ist dies jedoch kein Beweis, dass es im speziellen Fall von J.W. ausgeschlossen ist. Seine Familie reichte daher beim Kassationsgericht erneut eine Beschwerde ein – und hier kommt der Europäische Gerichtshof (EuGH) ins Spiel. Wenn ein Fall wie hier bis in die letzte Instanz geht und dort noch Uneinigkeit herrscht, müssen nationale Gerichte den Rat des EuGH einholen, wie das Recht der Europäischen Union auszulegen ist.
Das EuGH-Urteil bezieht sich also auf die sinngemäße Frage des französischen Gerichts, ob es falsch ist, diese „ernsthafte, klare und übereinstimmende Vermutung“ als Beweis anzuerkennen, auch wenn die medizinische Forschung dem widerspricht.
Zwei Aspekte waren hier für mich einleuchtend:
Infolge des EuGH-Urteils wurde der Familie von J.W. schlussendlich also doch Anspruch auf Schadensersatz zugesprochen.
Fair oder Unfair?
Unglücklich, dass dieses Urteil ausgerechnet das sensible Thema „Impfungen“ betrifft. Wäre die Wissenschaft auch gegen ein gleiches Urteil Sturm gelaufen, das keinen Impfstoff, sondern ein anderes Arzneimittel betrifft?
Es ist eine riesige Errungenschaft, dass man durch konsequentes Impfen bestimmte Krankheitserreger eradizieren kann. Es wäre eine noch größere Errungenschaft, würde das bei noch mehr Erregern gelingen. Voraussetzung dafür ist eine hohe Impfbereitschaft. Es besteht Sorge, dass Rechtsprechungen wie diese die Bevölkerung verunsichern und die Impfbereitschaft darunter leidet.
Diese Sorge ist einerseits nachvollziehbar. Mediziner wünschen sich, dass die Gesellschaft von bestimmten Krankheiten befreit wird. Der ein oder andere Impfschaden muss dabei in Kauf genommen werden, überwiegt der Nutzen doch so ungemein. Andererseits frage ich mich: Ist eine Forderung wie „Verunsichert die Bevölkerung nicht zusätzlich durch solche Nachrichten!“ nicht vielleicht genau der Knackpunkt des erbitterten Kriegs zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern?
Nimmt man militanten Impfgegnern und deren Verschwörungstheorien vielleicht das Publikum, indem man die Fronten etwas auflockert? Indem man Botschaften wie „Impfen ist todsicher, Impfstoffe sind sicher und haben keine Nebenwirkungen“ abschwächt und (realistische) mögliche Folgen offener diskutiert?
Zu thematisieren, dass es Impfschäden gibt und dass es nicht ausgeschlossen ist, dass manche davon auch noch nicht bekannt sind, ist wichtig – aber auch, dass eine Abwägung von Nutzen und Risiko klar zugunsten der meisten Impfungen ausfällt. Für den einzelnen Patient ist der Nutzen für die Gesellschaft jedoch sehr abstrakt. So ein Aufklärungsgespräch bedarf daher sicher viel Empathie. Aufbau von Druck führt weder zu Verständnis, noch wurde so jemals eine Front gelockert.
Ich könnte mir vorstellen, dass manches Gerichtsverfahren gar nicht erst eröffnet worden wäre, wenn Patienten im Vorhinein ausreichend und empathisch über alle Risiken der Impfung aufgeklärt worden wären.