Die Mehrzahl der Kinder, die sich das Leben nehmen, ist männlich und sie begehen den Suizid zu Hause. Immerhin ein Drittel der Kinder spricht vorher über seine Absicht. Als Warnzeichen gelten Depressionen, aber auch die Diagnose Aufmerksamkeitsstörung.
Bisher ist wenig über die Ursachen und Hintergründe von Suiziden bei Kindern bekannt. Nun hat eine neue Studie Daten von Grundschulkindern (im Alter von 5 bis 11 Jahren) mit Daten von jungen Jugendlichem (im Alter von 12 bis 14 Jahren), die alle durch Suizid verstorben waren, verglichen, um die Hintergründe von Selbsttötungen bei Kindern besser zu verstehen. Kinder bis zum Alter von 11 Jahren nehmen sich selten selbst das Leben – aber auch in diesem Alter kommen Suizide vor. Im Jahr 2014 war Suizid die zehnthäufigste Todesursache bei amerikanischen Grundschulkindern. So zeigt die letzte Sterbestatistik der amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention aus dem Jahr 2014, dass die Suizidrate bei Kindern zwischen 5 und 11 Jahren bei 0,17 von 100.000 Personen liegt, während bei den 12- bis 17-Jährigen 5,18 von 100.000 durch Suizid sterben.
Die Forscher um Arielle Sheftall von der Ohio State University in Columbus (USA) verwendeten Daten aus den Jahren 2003 bis 2012 aus dem „National Violent Death Reporting System“ der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) – einem staatlichen Datenregister, in dem Informationen zu allen gewaltsamen Todesfällen in den USA erfasst werden. Dabei standen ihnen Daten aus 17 US-Bundesstaaten zur Verfügung. In die Studie gingen alle Daten von Kindern und Jugendlichen im Alter von 5 bis 14 Jahren ein, die durch Suizid zu Tode gekommen waren. Von den insgesamt 693 Fällen waren 606 Jugendliche im Alter von 12 bis 14 Jahren, 87 waren Kinder im Alter von 5 bis 11 Jahren. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift „Pediatrics“ erschienen. Bei der Auswertung zeigten sich einige Gemeinsamkeiten zwischen den Altersgruppen: Die Mehrzahl der Suizidanten in beiden Gruppen war männlich, die Suizide fanden überwiegend zuhause statt, und etwa ein Drittel der Betroffenen hatte eine ärztlich diagnostizierte psychische Erkrankung. Etwa ein Drittel der Betroffenen hatte vor dem Suizid Probleme in der Schule, ebenfalls ein Drittel hatte kurz zuvor eine Krise erlebt. Schließlich hatten in beiden Gruppen gleich viele Kinder bzw. Jugendliche mit jemandem über ihre Selbsttötungsabsicht gesprochen – nämlich 29 Prozent.
Allerdings bestanden auch deutliche Unterschiede zwischen den Altersgruppen. So starben die Kinder im Vergleich zu den Jugendlichen häufiger durch Erhängen, Strangulation oder Ersticken, und in der jüngeren Gruppe waren deutlich mehr Betroffene männlich und schwarz. So waren 37 Prozent der jüngeren, aber nur 12 Prozent der älteren Suizidanten Schwarze. Auch hinsichtlich der psychiatrischen Diagnosen unterschieden sich die beiden Gruppen: Bei Kindern, bei denen eine psychische Erkrankung festgestellt worden war, lautete die häufigste Diagnose „Aufmerksamkeitsstörung“ (mit oder ohne Hyperaktivität). Sie lag bei 60 Prozent der betroffenen Kinder vor, während bei 33 Prozent eine Depression diagnostiziert worden war. Bei den Jugendlichen mit psychiatrischer Diagnose lag dagegen in 66 Prozent der Fälle eine Depression und nur bei 29 Prozent eine Aufmerksamkeitsstörung (mit oder ohne Hyperaktivität) vor. Die Rate von Alkohol- oder Drogenmissbrauch war in beiden Gruppen zwar niedrig. Dennoch wurden bei der Obduktion bei 7,5 Prozent der Jugendlichen und 3,9 Prozent der Kinder Opiate im Körper festgestellt. „Das war ein überraschendes und zugleich besorgniserregendes Ergebnis, das weitere Beachtung verdient“, schreiben die Autoren. Schließlich hatten die 5- bis 11-Jährigen signifikant häufiger Beziehungsprobleme mit Familienangehörigen oder Freunden als die 12- bis 14-Jährigen, während in der älteren Gruppe häufiger Probleme in der Partnerschaft aufgetreten waren.
„Die Ergebnisse legen nahe, dass sich die Faktoren, die einem Suizid bei jungen Jugendlichen zugrunde liegen, nicht vollständig auf Kinder im Grundschulalter übertragen lassen“, sagt Sheftall. So könnte es sein, dass Kinder, die Suizid begehen, impulsiver auf Schwierigkeiten – zum Beispiel auf zwischenmenschliche Probleme – reagieren als Jugendliche. „Zukünftige Studien sollten untersuchen, ob es einen Entwicklungsprozess gibt, bei dem das Suizidrisiko bei jungen Kindern eher durch impulsives Verhalten und mit zunehmendem Alter stärker durch depressive Stimmung und emotionalen Stress beeinflusst wird“, schreiben die Forscher. Bisherige Präventionsansätze zum Suizid haben sich vor allem auf Kinder und Jugendliche mit Depressionen konzentriert. Die Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass bei Grundschulkindern spezifische Präventionsansätze notwendig sind. „Vielleicht müssen wir bei ihnen mehr auf typische Verhaltensmerkmale achten“, sagt Jeffrey Bridge, Seniorautor der Studie. Sinnvoll könnten Interventionsprogramme sein, bei denen gefährdete Kinder auf kindgerechte Weise lernen, ihre Gefühle auszudrücken, einen positiven zwischenmenschlichen Kontakt herzustellen und zwischenmenschliche Probleme zu bewältigen. „Jungen Kindern fehlen oft die Worte, um über ihre Gefühle zu sprechen oder um einen Konflikt durch ein Gespräch zu lösen“, sagt Jill Harkavy-Friedman, Vizepräsidentin der American Foundation for Suicide Prevention. Ein Beispiel ist das Programm „PATHS“ – auf Deutsch „PFAD“ (Programm zur Förderung alternativer Denkstrategien) – mit dem emotionale und soziale Kompetenzen im Grundschulalter gefördert werden.
Wichtig sei aber auch, dass Familienmitglieder, Schulpersonal und Kinderärzte stärker darüber informiert werden, wie man die Warnzeichen für einen bevorstehenden Suizid erkennen kann und wie man darauf reagieren sollte, betonen die Autoren. Solche Warnzeichen könnten zum Beispiel anhaltende Niedergeschlagenheit, ein plötzlicher Rückzug vor Freunden und Aktivitäten oder gesteigerte Aggressitivät und Reizbarkeit sein. „Außerdem sollte eine Äußerung, die auf Suizidabsichten hindeutet, immer ernst genommen werden – egal in welchem Alter“, betont Harkavy-Friedman. So haben immerhin rund ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in der Studie jemandem ihre Selbsttötungsabsicht mitgeteilt. Allerdings sprechen viele auch nicht über solche Absichten – deshalb sollten Bezugspersonen das Thema von sich aus ganz konkret ansprechen, so Harkavy-Friedman. „Es ist ok, ein Kind zu fragen: 'Fühlst Du Dich manchmal so, als ob Du nicht mehr da sein möchtest'?“, sagt die Psychologin. „Das wird das Kind nicht auf die Idee bringen, sich umzubringen – sondern stattdessen die Möglichkeit eröffnen, über das Thema zu sprechen.“
Kinderärzte und anderes medizinisches Fachpersonal könnten zur Einschätzung des Suizidrisikos Screening-Instrumente verwenden, die relativ wenig Zeit in Anspruch nehmen. Studien zeigen, dass eine Suizidgefährdung mithilfe solcher Verfahren von Ärzten vier Mal so häufig erkannt wird. Schließlich gibt es auch Programme, die suizidales Verhalten signifikant verringern können, etwa das „SOS – Signs of Suicide Prevention Program“. Sie enthalten auch Informationen für Bezugspersonen – also Familienmitglieder, Kinderärzte oder Lehrer –, wie man Warnzeichen für einen Suizid erkennt und welche Schritte man in diesem Fall ergreifen sollte.