Lotte ruft mich an. Eine Freundin, Ärztin in einem Krankenhaus, Unfallchirurgin, Mutter zweier Kinder. Am Wochenende hatte sie Dienst. Sie nannte es „Reisesprechstunde“.
Jeder zweite Patient sei zur Abklärung seiner seit Wochen bestehenden Beschwerden gekommen. Schulter, Nacken, Rücken, Knie. Alles schmerzt. So kurz vor dem Urlaub zwickt es noch einmal mehr. Ich erinnere mich.
„Die Wade brennt. Wenn ich jetzt in den Flieger nach Mallorca steige, wird das eine Thrombose? Könnte es nicht schon eine sein?“
„Die Schulterschmerzen hab ich schon lange. Aber im Urlaub möchte ich schon schwimmen gehen. Geht das?“
Außerdem hat der Hausarzt zu. Es ist ja Urlaubszeit. Und die Vertretung? Am Wochenende sind die schließlich auch nicht da. Der ärztliche Notdienst? Nein, da hat man schon angerufen. Röntgen können die nicht. Aber die Ehefrau meint, dass man das noch einmal vor dem Urlaub klären sollte.
Natürlich. Die Wartezeit in der Notaufnahme ist anstrengend. Es gibt, umsonst, nur Wasser zu trinken. Aber es lässt sich aushalten. Es gibt schließlich einen Bäcker im Krankenhaus, Café und Kuchen, vielleicht noch ein Eis. Und man könnte mal ganz schnell die Nachbarin besuchen, die auf Station 3 liegt.
Außerdem, wenn man schon mal da ist, es brennt auch so beim Wasserlassen.
Dass der Junge mit der Patzwunde zuerst behandelt wird, wird noch toleriert. Aber spätestens bei der dritten Oma, die aus dem Pflegeheim angeliefert und vorrangig behandelt wird, wird die Geduld auf die Probe gestellt. Schließlich wartet man schon seit zwei Stunden.
Lieber wartender Patient mit den Schulterschmerzen seit drei Monaten, liebe wartende Patientin mit den Nackenschmerzen seit sechs Wochen, liebe alte Dame mit den Rückenschmerzen seit 20 Jahren,
Oma 1 hat sich den Schenkelhals gebrochen. Sie muss operiert werden. Ja, jetzt noch. Oma 2 blutet unter ihrem Blutverdünner in ihren Kopf. Ja, das ist lebensgefährlich und ja, das Gespräch mit den Angehörigen dauert eine Weile. Oma 3 hat sich nichts gebrochen, flüchtet aber wegen ihrer Demenz die ganze Zeit von der Liege, sodass die Pflegekräfte alle Hände voll zu tun haben.
Außerdem nicht zu vergessen: Es liegen da noch ungefähr 100 Patienten auf den Stationen, die, vor oder nach Operationen, betreut werden müssen. Alte, junge, kranke und sehr kranke Patienten. Die alle einen Arzt brauchen.
Liebe Patienten, wollt ihr zwei Stunden auf einen Arzt warten, wenn ihr in den Kopf blutet? Oder zwei Stunden mit einem gebrochenen Bein da liegen, bevor ihr ein Schmerzmittel bekommt? Zwei Stunden auf einen Arzt warten, der sich um euren Herzinfarkt kümmert, nachdem ihr gestern eine neue Hüfte implantiert bekommen habt? Nein?
Dann wartet auf euren Termin beim Hausarzt oder beim Orthopäden.