Das kleine Mädchen schläft. Friedlich liegt sie auf ihrem Bett im abgedunkelten Zimmer. Bunte Vorhänge, hellgrüne Wände, ein selbstgebasteltes Mobile aus Holzperlen und Pappe. Die Tür steht offen - für eine Station im Krankenhaus ist es angenehm ruhig auf dem Flur.
Und die leichte Brise, die so durchs Zimmer wehen kann, bringt an diesem heißen Sommertag - das Thermometer ist dabei, auf 30 Grad zu klettern - ein wenig Erfrischung.
Mama ist zufrieden. 'Seit zwei Tagen geht es endlich. Die letzten vier, fünf Monate hätte sie niemals so ruhig schlafen können in der kurzen Hose. Immer musste ich ihr etwas anziehen, um zu verhindern, dass sie sich blutig kratzt. Die ganze Zeit hat es sie gejuckt! Ich wusste gar nicht mehr, was ich tun konnte. Die ganzen Cremes, egal, was sie uns gegeben haben - nichts hat wirklich geholfen.'
Vorsichtig schauen wir uns die Oberschenkel der kleinen Patientin an, die ihre Mutter uns zeigt; die Haut ist mittlerweile verheilt, Kratzspuren nur noch minimal zu erahnen. Ob die Haut gerötet gewesen sei, pustelig, ein Ausschlag, als der Juckreiz bestand? Mama schüttelt den Kopf. Es sei nie etwas zu sehen gewesen.
Mehrere Krankenhausaufenthalte in den letzten Monaten. Zwischendurch kurzfristige Besserung, Hoffnung. Aber nie so wirklich gut alles. Erhöhte Leberwerte. Erhöhte Gallensäuren. Das Medikament, das jetzt hilft: Colestyramin. Es hebt den enterohepatischen Kreislauf von Gallensäuren auf - sorgt also dafür, dass diese aus dem Darm nicht mehr resorbiert werden, wie es normalerweise passiert, sondern ausgeschieden werden. Also waren sie scheinbar der Grund für den Juckreiz; das passt. Aber warum sind die Werte überhaupt erhöht? Sono unauffällig. ERCP (=Endoskopische retrograde Cholangiopankreatikographie) unauffällig. Normale Bilirubin-Werte, kein Ikterus in der Vorgeschichte, keine Braunfärbung des Urins. Also nichts typisch für eine Cholestase (=Gallenstau), die den Anstieg der Gallensäuren und Leberwerte hätte erklären können.
Wir grübeln. Fallen uns weitere Differentialdiagnosen ein? Ein Assistenzarzt kommt vorbei und hilft uns mit wichtigen Erkenntnissen. Ob wir die Familienanamnese wirklich vollständig erhoben hätten? Wir sind verunsichert. Eigentlich schon. Aber wir merken schnell: doch nicht wirklich. Die Eltern unserer Patientin sind Cousins 1. Grades. Daher vermuten die Ärzte nun ein genetisches Problem, das den Gallensäure-Stoffwechsel beeinträchtigt. Oha! Dass diese Frage überhaupt relevant sein könnte - als Kinderarzt darf man keine Barrieren im Kopf haben.
Ich denke über die Begegnung mit der jungen Mutter nach. 19 Jahre alt, ihr Deutsch noch etwas holprig, aus Rumänien. Erstaunt und fasziniert davon, dass wir drei Studentinnen alle noch keine Kinder haben, obwohl wir älter sind als sie. Und schon fünf Jahre studieren. Sie selbst hat nur etwas bedauernd die Schultern hochgezogen, als wir gefragt haben, ob sie eine Ausbildung macht. 'Mit Kind?', hat sie gefragt, 'Bald zwei?', und auf ihren Bauch gezeigt. 'Nein. Ich habe nicht mal die Schule zu Ende gemacht.' So unterschiedlich ist ihr Leben von unserem. Und so sehr haben wir alle dennoch die Gemeinsamkeiten gespürt: die Freude über das aufgeweckte kleine Mädchen, dass irgendwann aufwachte und begeistert schien über die drei neuen Gesichter, die es anlächelten; die Erleichterung darüber, dass seine Leidensgeschichte nun wohl vorerst vorüber ist.
Ich schreibe mir hinter die Ohren, das nächste mal auch an Blutsverwandtschaft zu denken. Als Option im Hinterkopf. Als Arzt muss man wohl teilweise auch in Stereotypen denken. Ob die Familie unserer Patientin zu den Roma gehören? Der Assistent sagt, in dieser Volksgruppe komme ihm das nicht das erste mal unter. Das hat er in diesem Fall auch noch nicht erfragt.
Stereotypen im Kopf haben, um auf wichtige Differentialdiagnosen zu kommen und trotzdem nicht in Schubladen und Klischees denken. Das ist bestimmt gar nicht so einfach.
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