Gefühle kann man nicht kontrollieren – den Umgang mit ihnen allerdings schon. Wie sollte man sich also als Mediziner am besten verhalten, wenn man sich in einen Patienten verliebt? Und welche Konsequenzen bringt ein Fehltritt mit sich?
Ein flirtender tiefer Blick, ein hübsches Lächeln, langer Augenkontakt – und schon ist es um einen geschehen. Die Wangen werden rot, das Herz stolpert aufgeregt, Schmetterlinge tanzen im Bauch und man bekommt wackelige Knie. Der Funke springt über, häufig schon beim ersten Kontakt. Doch was, wenn sich dieses Szenario nicht auf der Straße oder in einem Café abspielt, sondern der Flirt sich in einer Arztpraxis oder im Krankenhaus abspielt? Was Stoff für zahlreiche romantische Arztserien à la Grey’s Anatomy liefert, ist in der Realität eine ziemlich heikle Angelegenheit.
Sympathie auf den ersten Blick
Es ist sechs Uhr abends, ein nasser, verregneter Dienstag im April. Chirurg Heiko M.* erledigt gerade letzte Kleinigkeiten auf der Station, als sich eine neue Patientin ankündigt. Er bereitet alles für die Ankunft vor. Frau K. kommt mit Verdacht auf eine Blinddarmentzündung und soll noch am selben Tag operiert werden. Heiko klopft an die Tür des Patientenzimmers, in der Hand den Aufklärungsbogen für die anstehende OP. Als sich die Tür öffnet, bleibt ihm für eine Minute der Atem stocken. Eine junge, sehr hübsche Frau liegt im Patientenbett mit sichtlichen Schmerzen. Ganz professionell untersucht der Chirurg seine Patientin und geht die OP-Aufklärung mit ihr durch. Frau K. hat Angst vor der Operation. Der Chirurg, der sonst immer so hart ist, fühlt mit und versucht sie zu beruhigen. Er kann nicht länger darüber nachdenken, was für ein seltsam warmes Gefühl er dabei im Bauch hat, denn er muss bald los, um sich um den Rest der Station zu kümmern. Heiko verspricht, nach der Operation noch einmal vorbeizuschauen.
Am Abend ist jedoch so viel zu tun, dass er es nicht mehr schafft. Am nächsten Tag hat Heiko M. ein schlechtes Gewissen. Ständig muss er an die eine Patientin denken. Wie es ihr wohl geht, ob sie Schmerzen hat, ob sie enttäuscht ist, dass er gestern nicht mehr bei ihr war. Gleich in der früh nach der Morgenbesprechung und einem aufgewärmten Kaffee eilt er zu ihrem Zimmer, um nachzufragen wie es ihr geht. „Gut“, antwortet Frau K., die auch in Krankenhausklamotten noch wahnsinnig schön aussieht. Sie verstehen sich auf Anhieb. Der Chirurg verbringt die nächsten Tage nach seiner Schicht oft in ihrem Zimmer und redet mit ihr über Gott und die Welt. Irgendwie ist da eine nicht gekannte Sympathie zwischen ihnen, die dazu führt, dass er gerne in ihrer Nähe ist.
Eine Handynummer zum Abschied
Hinter seinem Rücken beginnen die Schwestern zu tuscheln und haben ein breites Grinsen auf dem Gesicht, wenn Heiko M. nach ihrer Patientenakte fragt. Auch die Kollegen werfen ihm komische Seitenblicke zu, sobald es um Frau K. geht. Schließlich ist der Tag gekommen, an dem die Entlassung seiner Patientin erfolgt. Am liebsten möchte Heiko nicht, dass sie geht, doch er weiß, dass es längst überfällig ist, ein wenig Abstand zu Frau K. und seinen Gefühlen ihr gegenüber zu gewinnen. Der Abschied fällt nicht nur ihm schwer. „Alles Gute“, wünscht der Chirurg. „Vielen Dank“, antwortet Frau K. Nach einer Weile fügt sie schüchtern hinzu: „Das ist vielleicht nicht angebracht, aber ich fand unsere Gespräche so bereichernd und naja … hier meine Nummer, nur falls … Sie das auch gerne wiederholen möchten“.
Er bekommt einen kleinen Zettel zugesteckt und Frau K. macht sich lächelnd auf den Weg. Heiko wird knallrot und gibt ihr zum Abschied die Hand, obwohl er sie lieber umarmen würde. Der Chirurg ist hin- und hergerissen. Wäre sie nicht seine Patientin, würde er sofort anrufen und um ein Date bitten. So weiß er nicht, was er tun soll. Eine Beziehung zu einer Patientin? „Das geht gar nicht“, kommentiert ein enger Freund, dem er von seinen romantischen Gefühlen erzählt. „Lass das lieber sein, wenn dir dein Beruf lieb ist.“
Eine harte Reaktion, aber wie steht es tatsächlich um romantische Beziehungen zwischen Arzt und Patient? Sind sie ein großes Tabu oder gar verboten?
Vorsicht bei romantischen Beziehungen
In verschiedenen Internetforen findet man zahlreiche Beiträge von Ärzten oder Patienten, die sich Hals über Kopf in den attraktiven Patienten bzw. den gut aussehenden Doktor verliebt haben und um Rat bitten. Doch im Gegensatz zu normalen Flirtversuchen entsteht hier eine Zwickmühle, die sich aus der hierarchischen Beziehung zwischen Arzt und Patient ergibt. Schon im Eid des Hippokrates ist das Verbot sexueller Kontakte zu Patienten festgeschrieben. Und auch heute noch gelten Liebesbeziehungen in diesem Bereich als unprofessionell. Nach Ansicht der meisten Mediziner schadet eine solche Bindung sowohl der Romantik als auch der Behandlung.
Laut einer Ethikumfrage von Medscape lehnen 46 % der Deutschen eine romantische Beziehung zwischen Arzt und Patient ab, nur 11 % halten eine Beziehung zu einem aktuellen Patienten für akzeptabel. Findet die Beziehung ein halbes Jahr nach Beendigung des Arzt-Patienten-Verhältnisses statt, findet immerhin jeder fünfte eine sexuelle Beziehung in Ordnung. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich auch im ärztlichen Beruf Ehepartner über die Arbeit finden. Dennoch ist zu Vorsicht bei romantischen Beziehungen zwischen Arzt und Patient geraten, da das natürliche Machtgefälle zu problematischen Verwicklungen und Abhängigkeiten führen kann. „Der Arzt weiß viel über die Patientin, geht in der Anamnese, der Untersuchung, der Therapie über die meisten zwischenmenschlichen Grenzen“, schreibt der Psychologe Dr. Bernhard Mäulen in einem Beitrag für die Zeitschrift MMW – Fortschritte der Medizin. „Die Auswirkungen sexueller Grenzverletzungen durch Ärzte sind für die Patienten in der Regel gravierend!“
Überlegenheit und Machtgefälle
Das zentrale Problem erklärt Mäulen so: Eine gleichberechtigte oder ausgewogene Beziehung könne zwischen Arzt und Patient nicht entstehen. Der Arzt befinde sich zunächst in einer überlegenen Position, denn er weiß viel mehr über den Patienten als umgekehrt. Dies könne sich zwar im Laufe der Beziehung ändern, doch dann könne es zur Rollenkonfusion kommen: „Der ehemals große Helfer entpuppt sich oft als tief bedürftig. Die Hoffnung, beschützt zu werden, wird bei der Patientin enttäuscht und am Ende fühlt sie sich sogar betrogen“, erklärt der Psychologe. Gerade in der Beziehung zwischen Psychiatern oder Psychotherapeuten und ihren Patienten ist dies ein großes Problem. Denn in der Folge kann es dann zu einem Vertrauensverlust, zu einem verringerten Selbstwertgefühl, ja sogar zu Depressionen, suizidalen Handlungen und sexuellen Störungen auf Seiten der Patienten kommen. Nachfolgende Therapien können so erschwert werden, denn es entstehen oft ambivalente Gefühle gegenüber Therapien, manchmal sogar Blockaden. Der Patient ist gehemmt, eine neue Therapie zu riskieren.
Gravierende Auswirkungen für den Arzt
Aber auch für den Arzt kann eine sexuelle Beziehung zu seinem aktuellen Patienten gravierende Auswirkungen haben. Besonders dann, wenn die Liebesbeziehung scheitert und der Mediziner sich mit dem Vorwurf des Missbrauchs konfrontiert sieht. Allein ein solcher Vorwurf, unabhängig vom strafrechtlichen Ausgang, kann ausreichen, um das Leben eines Arztes komplett zu zerstören. Denn die Staatsanwaltschaft und Ermittlungsbehörden gehen in solchen Fällen häufig sehr energisch vor, auch aufgrund des öffentlichen Drucks.
Auch im Falle eines Freispruchs kommt es in der Regel zur Rufschädigung und einem Infragestellen der ärztlichen Leistung. Der Mediziner wird bei Verdacht auf eine sexuelle Grenzverletzung oft sofort freigestellt oder gekündigt, die Approbation muss ruhen. Eventuell wird er sogar in den Medien bloßgestellt und muss mit negativen Auswirkungen auf seine Beziehungen zu Ehepartnern, Kindern, Kollegen oder Freunden leben. Selbst wenn erkennbar kein strafrechtlich relevantes Verhalten wie Vergewaltigung, sexuelle Nötigung oder Missbrauch vorliegt, kann gegen das Berufsrecht verstoßen worden und die Approbation gefährdet sein.
Der Ruf ist schnell ruiniert
Verurteilt werden kann der Arzt nach § 174c Absatz 1 des Strafgesetzbuches. Dieser stellt den sexuellen Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses unter Strafe. Der sexuelle Kontakt und auch schon der Versuch, einen solchen herzustellen, kann mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft werden. Außerdem kann ein Verstoß berufsrechtliche Konsequenzen haben, wie den Entzug der Approbation sowie zivilrechtliche Forderungen, also Schadensersatzansprüche nach sich ziehen. Seit Einführung des Gesetzes 1998 hat es nur wenige Verurteilungen gegeben, doch kommen sie immer wieder vor.
Wo ist die Trennlinie?
Natürlich gibt es klare Unterschiede zwischen einer einvernehmlichen Liebesbeziehung und sexuellem Missbrauch. Ombudsmann Meinhard Korte der Ombudsstelle für Fälle von Missbrauch in ärztlichen Behandlungen der Landesärztekammer Hessen erklärt,hm wann eine Grenzverletzung vorliegt: „Missbrauch ist, wenn das Arzt-Patienten-Verhältnis ausgenutzt wird, um ein persönliches Bedürfnis zu befriedigen. Die Trennlinie ist: Dient das Handeln des Arztes der Behandlung oder widerspricht es diesem Ziel?“ Doch auch der umgekehrte Fall kann vorkommen, nämlich, dass ein Patient die Beziehung zum Arzt missbraucht, auch wenn das äußerst selten geschieht. So berichtet Korte von einem Psychotherapeuten, der von einer Patientin des Missbrauchs bezichtigt wurde, nachdem er ihren Wunsch nach einer privaten Beziehung nicht erfüllt hatte. Sie zeigte ihn an und erzwang ein Verfahren durch drei Instanzen, welches mit einem endgültigen Freispruch für den Arzt endete.
Ein Fall, bei dem klar ist, dass keine Ausnutzung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient besteht, existiert dann, wenn die Beziehung schon vorher bestand. So ist es natürlich nicht verboten, seinen Ehe- oder Lebenspartner medizinisch zu behandeln.
Wie verhalten?
Die meisten Ärzte können nachvollziehen, dass man einen Patienten sexuell attraktiv findet und sich vielleicht auch verliebt. Man kann nun mal nicht steuern, wem man in der Praxis oder im Krankenhaus begegnet und was für Gefühle das in einem hervorruft. Genauso wenig, wie man beeinflussen kann, andere Leute hin und wieder attraktiv zu finden, auch wenn man bereits in einer Beziehung oder verheiratet ist. Aber so wie man vor Patienten nicht ausrastet und sie anschreit, wenn diese sich daneben benehmen, so kann man auch romantische oder sexuelle Gefühle kontrollieren und sie bewusst nicht ausleben. Das ist eine Fähigkeit, die für jedermann im Leben wichtig ist, umso mehr für einen Mediziner in einer hierarchischen Arzt-Patienten-Beziehung.
Im harmlosesten Falle ist eine solche Liebesbeziehung unethisch, im schlechtesten Falle zerstört sie Karriere und Leben des Arztes. Man sollte Liebesgefühle, die man gegenüber dem Patientenbewusst empfindet, bewusst wahrnehmen und sie dann wegpacken. Ist man bereits in eine unprofessionelle Beziehung hineingeschlittert, sollte man sich auf jeden Fall als Erstes aus seiner Arztrolle zurückziehen und den Patienten einem Kollegen übergeben. Man sollte sich bewusst machen, dass man dem Patienten und sich selber damit schaden kann und in Erwägung ziehen, ob es nicht besser ist, die Beziehung aufzugeben. Auch wenn es viele Beispiele glücklich entstandener Ehen aus solchen Beziehungskonstellationen geben mag, sollte man sich gut überlegen, ob man das Risiko eingeht oder seinen Partner nicht doch einfach auf der Straße oder im Café nebenan kennenlernt.
*Name geändert