Der Stiel eines Spinatblatts erinnerte Biotechniker Joshua Gershlak an eine Aorta. Gemeinsam mit seinem Kollegen fand er einen Weg, funktionsfähiges Herzgewebe aus Spinat zu züchten. Wie wird das die zukünftige Medizin revolutionieren?
Dieser Beitrag wurde ausgezeichnet mit dem ACHEMA Medienpreis 2018
Wenn es ein Superfood gab, lange bevor Goji-Beeren, Chiasamen oder Spirulina-Algen die Supermärkte der Welt eroberten, dann war es mit Sicherheit der Spinat. Zu Großmutters Zeiten wurden die grünen Blätter zuhauf als Beilage serviert, die gesund und stark machen sollte. Kinderserien wie Popeye animierten schon die Kleinsten und versprachen Kraftschub und Muskeln durch Spinatverzehr. Doch wäre damals wohl keiner auf die Idee gekommen, dass das Gemüse eines Tages dazu verwendet werden würde, Herzgewebe zu erzeugen. Natürlich kann Spinat alleine niemandem Muskeln schenken, auch nicht den wohl wichtigsten Muskel unseres Körpers – das Herz. Doch das Gemüse hat ein paar physikalische Eigenschaften, die Biomedizintechniker begeistern.
Faszination Spinat
Nimmt man ein handelsübliches Spinatblatt einmal genauer unter Lupe, fallen einem auf den ersten Blick seine feinen verästelten Strukturen auf. Die Pflanze besteht aus einem hauchdünnen Netzwerk von kleinen Venen, die sich durch das Blatt fädeln. Sie versorgen es mit Nährstoffen ähnlich wie das Blutgefäßsystem in unserem Körper. An sich nichts besonderes, doch zwei amerikanische Wissenschaftler brachte das auf eine ungewöhnliche Idee.
Die beiden Forscher Glenn Gaudette und Joshua Gershlak beschäftigen sich im Labor des Worchester Polytechnic Instituts (WPI) schon lange mit der Züchtung von menschlichem Gewebe. Sie suchen nach einer Lösung für den Mangel an Spenderorganen bei medizinisch notwendigen Transplantationen. Dafür experimentieren sie mit Techniken, mit denen sich menschliche Organe künstlich herstellen lassen. Eines Tages beim Mittagessen – es gab natürlich Spinat – fiel Joshua Gershlak etwas auf: „Als ich das Spinatblatt ansah, erinnerte mich der Stiel an eine Aorta“. Er begann, das fein verästelte Venengeflecht des Spinatblatts mit anderen Augen zu sehen. Im Vergleich mit unseren menschlichen Gefäßen gab es gar keine so großen Unterschiede. Schließlich fasste der junge Wissenschaftler einen Entschluss: „Ich dachte, lass uns probieren, das Blatt durch den Stiel mit Blut zu perfundieren“. Aus der verrückten Idee entwickelte der junge Doktorand am WPI ein ausgereiftes Experiment.
Ein schlagendes Herz
Von seiner Vision fasziniert, besorgte sich der Forscher direkt frische Spinatblätter aus dem Supermarkt nebenan. Doch im normalen Zustand eignet sich die Pflanze nicht für Versuche. Zunächst einmal mussten die Forscher einen Prozess entwickeln, mit dem sich alle pflanzlichen Zellen aus dem Spinatblatt auswaschen ließen – die sogenannte Dezellularisierung. „Wir verwenden dazu ein Reinigungsmittel, eine bestimmte Art von Seife, die alle Zellen aus dem Gewebe ablöst und entfernt“, erklärt Glenn Gaudette. „Übrig bleibt dann nur noch eine Hülle aus Polysacchariden (die Zellulose), die dem Blatt seine Struktur gegeben hat.“
Die spezielle Seife zerstört also alle pflanzlichen Zellmembranen, ohne jedoch die Gefäßstruktur des Blattes zu verletzen. Dadurch werden die grünen Zellstrukturen ausgewaschen und es bleibt nur noch die farblose Hülle des Blattes zurück. Der nächste Schritt der Forscher auf dem Weg zum Herz aus Spinat stellte die Anzüchtung von echten menschlichen Zellen im Spinatblatt dar. Dazu verwendeten die Forscher Endothelzellen, die in unserem Körper alle Blutgefäße von innen auskleiden. Diese Zellen siedelten sie an den Innenwänden der Spinatvenen an und tatsächlich war das menschliche Endothelgewebe in der Lage anzuwachsen.
Begeistert von diesem Ergebnis, gingen die Wissenschaftler daraufhin einen Schritt weiter. Sie siedelten an der Außenwand der Spinatgefäße aus Stammzellen gezüchtete menschliche Herzmuskelzellen an. Und siehe da: Nach fünf Tagen begannen die Muskelzellen anzuwachsen und sich unter dem Mikroskop sichtbar zu kontrahieren. Für Gershlak ein ganz besonderer Moment: „Ich habe es erst auf den zweiten Blick erkannt. Plötzlich sah ich, dass sich die Zellen bewegen“. Der aufgeregte Forscher zückte sofort sein Handy, um das Geschehen in einem unscharfen Video zu dokumentieren. Die menschlichen Herzmuskelzellen konnten sich über einen Zeitraum von 21 Tagen aus eigenem Antrieb kontrahieren.
Der Prozess der Dezellularisierung des Spinatblatts. Bildquelle: Worchester Polytechnic Institute
Auch Äpfel können Formgeber sein
Das Spinatherz war nun fast fertig. Im letzten Schritt wollten die Forscher noch nachweisen, dass das künstliche Gewebe auch mit Blut versorgt werden kann. Um einen möglichst realistischen Blutfluss durch die Spinatgefäße zu simulieren, gaben sie daher rot gefärbte Flüssigkeit in den Blattstiel. Zudem bauten sie die roten Blutkörperchen in Form von 10 Mikrometer kleinen Kugeln nach und durchspülten damit erfolgreich das Spinatblatt. Alle Gefäße wurden im Experiment von der roten Flüssigkeit durchzogen. Ein echter Erfolg, denn dies zeigt, dass die pflanzlichen Gefäßgerüste auch nach dem Dezellularisierungsverfahren offen bleiben und in der Lage sind Mikropartikel ähnlich denen unseres Blutes zu transportieren.
Die Forscher des WPI waren jedoch nicht die ersten, die menschliches Gewebe auf einer Pflanzenbasis anzüchteten. Vor kurzem verwendete beispielsweise ein Team von Wissenschaftlern aus Ottawa einen Apfel, um ihn zu dezellularisieren. Sie schnitzten das Apfelstück in der Form eines menschlichen Ohres und füllten es mit menschlichem Zervixgewebe, das daraufhin zu wachsen begann. Gaudette und Gershlak aber sind die ersten Forscher, die die Dezellularisierungstechnik verwenden, um Pflanzenvenen als Basis für menschliche Blutgefäße zu nutzen.
Das dezellularisierte Spinatblatt nach Durchspülung mit roter Farbe. Bildquelle: Worchester Polytechnic Institute
Die Schwierigkeit der kleinen Röhrchen
Doch warum stellt das Experiment der Amerikaner nun einen Durchbruch in der Medizin dar? Wieso wählt man einen so komplizierten Umweg über Pflanzen zur Anzüchtung von menschlichem Gewebe? Man könnte meinen es wäre sehr viel einfacher menschliche Herzzellen auf normalen Materialien beispielsweise in einer gewöhnlichen Petrischale anzuzüchten. Um diese Frage zu beantworten, muss man wissen, dass dies bislang unmöglich ist.
Menschliches Herzgewebe besteht aus hunderten von aufeinandergeschichteten Zellen, die alle ausreichend mit Blut, mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden wollen. Das funktioniert in unserem Körper wunderbar über die Kapillaren. Kapillaren sind winzig kleine Blutgefäße, die sogar dünner als ein menschliches Haar sind. Haare haben einen Durchmesser zwischen 30 und 100 Mikrometern, die kleinsten Kapillaren in unserem Körper dagegen messen gerade einmal 5 Mikrometer. Die Gefäße sind sogar so klein, das unsere roten Blutkörperchen nur noch einzeln hintereinander durchpassen, wie im Gänsemarsch – und das gerade so; sie müssen sich dazu schon verbiegen.
Kopie aus der Natur
Diese Kapillaren bilden in unserem Körper ein weit verzweigtes Netz aus tausenden verästelter Gefäße und versorgen so jede einzelne Zelle unseres Herzens. Ohne sie könnten wir nicht leben. Und genau darin liegt die Schwierigkeit bei der Herstellung von künstlichem Gewebe. Man kann zwar Zellen künstlich anzüchten, aber man muss diese auch ausreichend mit Nährstoffen versorgen. Bislang war es nicht möglich künstliches Gewebe ausreichend zu ernähren, um es lange am Leben zu erhalten. Denn wir sind nicht in der Lage das weit verzweigte winzigkleine Kapillarnetz unseres Körpers nachzubauen. Doch: die Natur kann es.
Pflanzenblätter bilden zwar keine richtigen Kapillaren aus, doch ihre Gefäßstrukturen ähneln denen des Menschen sehr. Dies haben sich die WPI-Forscher im Spinatexperiment zunutze gemacht. „Pflanzen und Tiere nutzen grundlegend unterschiedliche Vorgehensweisen, um Flüssigkeiten, chemische Stoffe und Makromoleküle zu transportieren. Allerdings gibt es überraschende Ähnlichkeiten, was die Struktur ihrer Blutgefäße betrifft“, schreiben die Wissenschaftler in ihrer Veröffentlichung. So konnten sie die vorgefertigten Venenstrukturen der Spinatblätter als Stützgerüst für menschliche Blutgefäßzellen verwenden und damit das bisherige Versorgungsproblem umgehen.
Zellulose – ein guter Stoff
Das Besondere an der Arbeit von Glenn Gaudette and Joshua Gershlak ist, dass es vor allem einen Bestandteil der Pflanzen hervorhebt, ohne den die Nachbildung der Gefäße nicht möglich wäre: die Zellulose. Sie ist der Stoff, der übrig bleibt, wenn man die Spinatblätter von allen anderen Zellen befreit. Zellulose kennt man als Ballaststoff in unserer täglichen Ernährung, beispielsweise in Salat. Sie ist sehr robust, denn sie besteht aus so komplex miteinander verknüpften Kohlenhydraten, dass der menschliche Körper keine Enzyme besitzt, um sie aufzuspalten – er kann sie nicht verdauen. Kühe und andere Wiederkäuer besitzen dagegen die Hilfe von anaeroben Mirkoorganismen und können so einen Großteil in Fettsäuren umwandeln und verstoffwechseln.
Zellulose ist deswegen so besonders, weil sie ein biokompatibler Stoff ist, das heißt, dass sie der menschliche Körper gut annimmt und nicht durch Immunreaktionen abstößt. Chirurgisches Nahtmaterial wird deswegen aus Zellulose hergestellt und früher war sie sogar Hauptbestandteil von Dialysatoren zur Blutwäsche. Auch Baumwolle besteht zu 99% aus Zellulose. „Zellulose wird bei einer Reihe von Anwendungen in der regenerativen Medizin verwendet wie beispielsweise im Bereich der Knorpelgewebetechnik, Knochengewebetechnik und Wundheilung“, erklären die Forscher des WPI. Dennoch müssen weitere Versuche erst zeigen, ob die komplexeren zellulosegestützten Blutgefäße aus echten Pflanzen, wie die Forscher sie in ihrem Experiment entwickelt haben, Immunreaktionen im menschlichen Körper hervorrufen können.
Bisher scheiterte es an der Matrix
Die Zellulose, die nach Auswaschung der Spinatblätter zurückbleibt, dient im Spinat-Experiment als Ersatz für die sogenannte extrazelluläre Matrix (EZM) des menschlichen Körpers. Diese Matrix besteht aus großen Molekülen wie zum Beispiel Kollagen oder Elastin, Glukosaminoglykanen wie der Hyaluronsäure, aber auch Wasser. Zusammen bilden sie die Grundsubstanz und Fasern, die den Platz zwischen den Zellen füllen. Die EZM hat vielfältige Aufgaben wie beispielsweise die Verankerung von Zellen, die Unterstützung der Zell-Zell-Kommunikation oder die Strukturgebung. Bei Pflanzen übernimmt die Zellulose die Formgebung der Zellen - sie ist Hauptbestandteil ihrer Zellwand. Tierische Zellen hingegen besitzen keine Zellwand, sondern nur eine dünnere Zellmembran. Sie werden erst durch die EZM stabil.
Bislang ist es Forschern zwar schon gelungen, menschliche Herzzellen zu züchten, aber an ihrem Stützgerüst, der Extrazellulären Matrix, sind sie bisher gescheitert. „Eines der großen Probleme in der Züchtung von Herzmuskelgewebe ist, seine Zellen ausreichend mit Blut zu versorgen“, erklärt Glenn Gaudette die Problematik. „Der Herzmuskel ist ziemlich dick. Jetzige Technologien können kein Gewebe erzeugen, das einerseits dicht genug ist, um kaputtes Herzgewebe zu reparieren und gleichzeitig kleinen Blutgefäßen erlaubt, lebenswichtigen Sauerstoff hindurch zu transportieren.“