Das Humane Herpesvirus triggert möglicherweise Entstehung und Fortschreiten von Alzheimer, so das Fazit einer aktuellen Studie. Im Vergleich zu Nichterkrankten fand sich das Virus im Gehirn von Alzheimer-Patienten in doppelter Konzentration.
Schon länger vermuten Experten, dass Krankheitserreger zu Ausbruch und Fortschreiten der Alzheimer-Demenz beitragen, wirklich stichhaltige Beweise gab es bis dato nicht. Eine Schwierigkeit dabei: zu unterscheiden, ob ein Krankheitserreger ursächlich verantwortlich ist oder ob er sich nur opportunistisch im Schatten der Neurodegeneration ausbreitet.
In der aktuell im Fachmagazin Neuron publizierten Studie hat das Forscher-Team um Prof. Dr. Samuel Gandy vom Mount Sinai Alzheimer's Disease Research Center in New York City (USA) versucht, die Faktenlage zu verbessern und umfangreiche Datensätze zum Gehirngewebe Verstorbener – Menschen mit und ohne Alzheimer – detailliert analysiert. In ihre Untersuchung integrierten sie Daten aus dem Virus-Genom sowie aus Teilen der menschlichen DNA von Gehirnzellen. Darüber hinaus flossen Informationen aus umfangreichen Transkriptom- und Proteom-Analysen von Viren und menschlichen Zellen sowie histopathologische Daten ein. Die Wissenschaftler analysierten, vernetzten und verglichen die Daten und suchten nach Hinweisen, Verbindungen und Interaktionen zwischen Virus, Nervenzellen und Alzheimer-Genese. Das hierfür entnommene Gehirngewebe stammte aus vier Gehirnregionen.
Gandy und Kollegen fanden heraus, dass Alzheimer-Patienten eine doppelt so hohe Konzentration des humanen Herpesvirus 6A (HHV-6A) sowie des humanen Herpesvirus 7 (HHV-7) aufwiesen im Vergleich zu Menschen ohne Alzheimer-Demenz. Sie konnten die Ergebnisse in zwei zusätzlichen, unabhängigen Kohorten bestätigen. Außerdem stellten sie fest, dass die Viren mit verschiedenen Transkriptionsfaktoren interagierten, die an der Synthese des Amyloid-Vorläuferproteins (Amyloid-Precursor-Protein; APP) beteiligt sind oder Alzheimer-assoziierte Gene aktivieren. APP ist ein integrales Membranprotein, das unter anderem als Ausgangssubstanz für die Produktion von Beta-Amyloid fungiert. Die vermehrte Beta-Amyloid-Synthese gilt als eine der Ursachen von Alzheimer, auf der viele Wirkstoff-Entwicklungen basieren.
Ganz neu sind die Erkenntnisse um den möglichen Einfluss des Herpesvirus' bei Alzheimer nicht. Schon in einer vielzitierten Lancet-Publikation aus dem Jahr 1997 konnte Prof. Dr. Ruth Itzhaki, Faculty of Life Sciences der Universität Manchester zeigen, dass die Kombination aus einer aktiven Infektion mit Lippenherpes (Humanes Herpesvirus 1 [HHV-1], Herpes simplex Typ1) und dem Besitz des „Alzheimer-Risikogens“ APOE4 ein Risikofaktor für Alzheimer ist. Außerdem kam das APOE4-Allel bei Menschen mit Lippenherpes viel häufiger vor: 33 % versus 9 % bei Menschen ohne Herpes labialis. Das Zusammenspiel von ApoE4 und HSV1 schädigt das Nervensystem, lautete damals die Schlussfolgerung. Auf dem World Congress on Controversies in Neurology (CONy) 2016 in Lissabon erneuerte Itzhaki ihre Hypothese. Und sie ging noch weiter: Ihrer Ansicht nach erklärten die Befunde etwa 60 % aller Alzheimer-Erkrankungen und seien inzwischen von verschiedenen Arbeitsgruppen bestätigt worden. Dass es sich zumindestens lohnt, in diese und andere Richtungen zu denken, zeigen allein die Misserfolge der Alzheimer-Forschung aus den letzten 6 Monaten.
Erst im Mai 2018 war der Hoffnungsträger Verubecestat in einer Phase-3-Studie gescheitert. Verubecestat – ein experimentelles Medikament gegen Alzheimer – konnte bei Patienten mit leichter bis moderater Alzheimer-Erkrankung weder den kognitiven noch den funktionellen Verfall reduzieren. Der Wirkstoff greift in die Entstehung von Beta-Amyloid ein und hemmt die Beta-Sekretase (auch BACE-1), eines der beiden Enzyme, die das Amyloid-Vorläufer-Protein APP in Beta-Amyloid spalten. Auch der humanisierte monoklonale Antikörper Solanezumab konnte in einer Phase-3-Studie im Januar dieses Jahres nichts ausrichten. Er wurde entwickelt, um lösliches Beta-Amyloid verstärkt aus dem Gehirn zu befördern, bevor sich daraus Ablagerungen bilden. Das Prädikat auch hier: wirkungslos. Andere Therapie-Strategien versagten ebenfalls, etwa der 5-HT6-Rezeptor-Blocker Idalopirdin, entwickelt zur symptomatischen Therapie. Die Blockade verstärkt cholinerge, noradrenerge, glutamaterge und dopaminerge Neurotransmissionen. Sie sollte vor allem die cholinergen und glutamatergenen Funktionen verbessern und mit ihr die kognitive Leistung, so die Hoffnung der Forscher. Doch auch Idalopirdin scheiterte in Phase 3. Es konnte die Kognition von Patienten mit leichter bis moderater Erkrankung nicht verbessern. Auch diese Ergebnisse wurden im Januar 2018 veröffentlicht.
Die Misserfolge führten zu ersten Konsequenzen: So hat Pfizer zu Jahresbeginn den Rückzug aus der Alzheimer- und Parkinson-Forschung angekündigt und 300 Jobs gestrichen. Es ist zu befürchten, dass sich weitere Pharmaunternehmen aus Alzheimerforschung und -geschäft verabschieden werden. Dabei ist der Bedarf bei aktuell rund einer Millionen Alzheimer-Patienten in Deutschland und mehr als 30 Millionen Alzheimer-Patienten weltweit hoch. Und Alzheimer ist bis heute unheilbar. Die Therapie beschränkt sich auf das Lindern der Beschwerden. Einige Wirkstoffe konnten in klinischen Studien die Symptome verbessern, besonders die Merkfähigkeit, unter anderem Tacrin, Donepezil, Memantin, Galantamin, Rivastigmin. Das war’s dann aber auch.
Die vielen Fehlversuche rücken auch die Prävention ins Scheinwerferlicht. Denn vaskuläre Risikofaktoren können die Alzheimer- und Demenz-Entwicklung beeinflussen. Spätestens seit der FINGER-Studie gibt es Evidenz dafür, dass das konsequente Minimieren vaskulärer Risiken, Diabetes, Rauchen oder erhöhter Homocystein-Werte und ein Lebensstil mit viel Bewegung und gesunder Ernährung das Risiko senken kann, an Alzheimer zu erkranken. Wie viel Prävention tatsächlich nützt und wo ihre Grenzen liegen, ist aktuell noch offen. Es lohnt sich daher, (erneut) in Ursachenforschung und Therapieoptionen zu investieren, da sich die bisherigen Wirkstoffe als wirkungslos entpuppt haben. Oder sie zielten per Zufallsprinzip ins Blaue. Die Ansätze reichen von Lithium im Trinkwasser, Hormontherapie nach der Menopause bis zu regelmäßigen Saunagängen. Sie zeigen, wie unsicher sich die Forschung ob der Gründe ist. Eine der möglichen Ursachen ist das Herpesvirus. Zu den potenziellen Mechanismen, die dahinterstehen, können die Autoren der aktuellen Studie nur mutmaßen. So hätten Tests gezeigt, dass das HHV-6A-Virus mit der menschlichen DNA interagiert und Neuronen-Verluste erzeugt. Außerdem störe das Virus das regulatorische Netzwerk der Transkriptionsfaktoren.
Oftmals interagierten die viralen Gene gerade mit den menschlichen Genen, die im Verdacht stehen, an Alzheimer beteiligt zu sein, so die Autoren. Möglicherweise sei die Alzheimer-Demenz die Antwort des Gehirns auf eine Störung durch Viren und die Produktion von Beta-Amyloid ein Teil dieser Antwort. Sollten weitere Beweise und Studien den Verdacht erhärten, könnten antivirale Wirkstoffe in der Alzheimer-Therapie zum Einsatz kommen.