Für neue Medikamente und Therapien sind Studien am Menschen unerlässlich – oft aber aufwändig und in freier Natur zuweilen nicht möglich. So kommen Forscher an Experimenten in der Virtual Reality nicht vorbei. Aber sind die Aussagen dann überhaupt realistisch und brauchbar?
Mehdi Moussaïd vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung bringt Menschen in seinem Institut in Situationen, in die sie außerhalb dieser Mauern hoffentlich nie kommen werden. Moussaïd erforscht das Verhalten von Menschen, wenn in einem dichten Gedränge plötzlich Panik ausbricht. Bekanntestes tragisches Beispiel in Deutschland: Die Duisburger Love-Parade von 2010. Es gibt einige Videos zu dieser Tragödie. Aber kann man nur vom Zuschauen lernen? Um eine solche Situation in Echtzeit nachzustellen, schickt Moussaïds Team die Probanden in die virtuelle Realität. Es ist ein nachgestelltes Gedränge, das aus dem Zuschauer direkt einen Teilnehmer macht. In ihrer Publikation vom September 2016 erklären Wissenschaftler, wie erstaunlich gut das Verhalten der Menschen beim Eintauchen in die „Virtual Reality“ (VR) mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
Aber ist das immer so? Wie gut kann eine computergenerierte Welt die Wirklichkeit abbilden? Dieser Fragestellung ging ein „Nature“-Artikel nach. Wie das Gehirn es schafft, sich im Gelände zu orientieren, die zahllosen Sinneseindrücke zu verarbeiten und in Einklang zu bringen, für diese Arbeiten bekamen JohnO’Keefe und May-Britt und Edvard Moser 2014 den Medizin-Nobelpreis. Ihre Forschungen stützen sich zum größten Teil auf die Arbeit mit Versuchstieren im Labor. Mit Hilfe von Computersimulationen lassen sich einzelne Umgebungsreize fast beliebig miteinander kombinieren. Beim ruhenden Tier ist es leichter, nachzusehen, ob und welche Gehirnregionen aktiviert werden und für die Lauf-Entscheidungen eine Rolle spielen. Die nachgestellte Umgebung macht es möglich, Geländemodelle mit Gefahren, aber auch Gerüche, Geräusche und sogar Reize für den Gleichgewichtsinn getrennt voneinander zu präsentieren und die entsprechenden Reaktionen im Gehirn zu messen. In freier Wildbahn wäre es nicht möglich, Kernspin- oder hochauflösende Fluoreszenzaufnahmen aus dem Gehirn zu gewinnen. Die Erschaffung einer virtuellen Realität ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass Mäuse keine Probleme mehr haben, sich darin wie auf einem Acker zu bewegen. Werden gezielt Sinneseindrücke ausgeschaltet, lassen sich sogar Unterschiede im Verhalten zwischen Labor und Freiheit analysieren. Welche Eindrücke entstehen, wenn das Tier selbst läuft? Welche Informationen liefert die Aktivität der Muskulatur?
Bei einfachen Versuchsanordnungen ist die künstliche Umgebung sicher geeignet, Fragen etwa nach einer „Ja-Nein“-Entscheidung zu beleuchten. Bei schwierigeren Orientierungsaufgaben mit etlichen Variablen wird die Sache ungleich komplizierter. Sensorische und propriozeptive Signale addieren sich nicht zu einer Summe, die dann über das Verhalten entscheidet. Neben Platz- und Gridzellen kennen die Neurologen bei Orientierung und Fortbewegung auch noch Border- (Grenz-)zellen, die den Abstand zu einem bestimmten Rand abstecken oder Head-Direction-(Kopf-Richtungs-) Zellen, die die Haltung des Kopfes signalisieren. Wenn die Fortbewegung im Raum jetzt jedoch nur in der Simulation stattfindet, ohne dass etwa entsprechende motorische Informationen im Gehirn eintreffen, kommt es zu einem Signal-Mismatch, den das Versuchstier meist nur mit entsprechendem Training überwinden kann. Wie sich eine solche Kompensation jedoch auf die Aktivität der Nervenzentren auswirkt, die für die Orientierung verantwortlich sind, ist bisher weitgehend unbekannt. Jedenfalls zeigen bisherige Experimente, dass sich die Aktivität der Nerven auch danach richtet, ob das Tier die Möglichkeit hat, selbst im Gelände zu laufen oder ob es fixiert ist. Eine Umgebung, die sich um das Tier dreht, löst andere Signale aus als eine, die mit der Eigenbewegung erkundet wird.
Das gilt jedoch nicht nur für Experimente mit Tieren: Auch Menschen, die bewegungslos im Kernspintomografen liegen, senden wohl andere Signale als jemand ausserhalb der Labormauern in ähnlicher realer Umgebung. Vergleicht man jedoch die aktivierten Gehirnregionen bei Menschen, die wie Londoner Taxifahrer ihre Umgebung bei der täglichen Arbeit kennengelernt haben mit jenen bei Menschen, die sich nur durch Lernen in einer virtueller Umgebung in der vorgespiegelten Welt auskennen, so sind die Unterschiede nicht allzu groß. „Virtual Reality“ erlaubt auch am Menschen Untersuchungen, die ausserhalb des Untersuchungsraums nicht möglich wären. Je mehr die technisch generierte Umgebung der wirklichen ähnelt, desto leichter gelingen auch Experimente mit „Body-Ownership“ bei Menschen. Dann schlüpft die Versuchsperson völlig in die Rolle seine Stellvertreters in der virtuellen Welt. Die „Gummihand-Illusion“ ist eine schon seit langem bekannte Anwendung, bei dem eine „künstliche“ Hand genau im Blickfeld des Probanden liegt, während seine eigene ausserhalb ruht. Berührungsreize, die gleichzeitig von der „realen“ und virtuellen Hand kommen und mit visuellen Eindrücken zusammenpassen, empfindet der Betroffene so, als kämen sie von der (Gummi-)Hand in seinem Blickfeld. Vor kurzem veröffentlichte Ilias Bergström mit seinen Kollegen von der Universität Barcelona eine Studie mit virtuellen Körpern, in die Versuchspersonen schlüpften. Je unangenehmer die Position der virtuellen - nicht der realen - Person war, desto schwerer war es für die Teilnehmer, sich mit der Rolle zu identifizieren. Diejenigen, die das gut konnten, zeigten jedoch auch autonome physiologische Reaktionen, die die ihrer unkomfortablen Lage entsprachen: erhöhten Herzschlag und geringere Herzschlag-Variabilität sowie mehr Fehler bei kognitiven Aufgabenstellungen.
„Virtual Reality“ hat sich als ein wichtiges Werkzeug beim Studium von psychischen Störungen als Krankheitsursache oder Nebenwirkung erwiesen. Dass auch die Studien zur Navigation im Raum und die Fortbewegung in der Welt der Illusion einen praktischen Bezug zur Klinik haben, zeigt ein Artikel einer englischen Forschergruppe in der Fachzeitschrift: „Aging, Neuropsychology, and Cognition“. Die „amnestische milde kognitive Störung“ (aMCI) betrifft vor allem das Erinnerungsvermögen, trägt aber ein hohes Risiko für eine zukünftige Demenz in sich. Weil dabei Nervenzellen im Hippocampus zugrunde gehen, verliert sich damit auch ein wenig die Fähigkeit zur störungsfreien Bewegung und Orientierung im Raum.
Patienten mit aMCI waren in der Lage, auch schwierige kognitive Aufgaben zu lösen, hatten jedoch Probleme mit der Orientierung in einem Labyrinth in einer virtuellen Welt. Das zeigte sich deutlich in der begleitenden funktionellen Kernspin-Resonanz. Damit könnte also VR nicht nur als Therapie – sondern auch als diagnostisches Werkzeug dienen.
Bei allem Enthusiasmus über die neue Technik und ihre Anwendungsmöglichkeiten zeigt die Kritik der „Nature“-Autoren Flavio Donato und Edvard Moser auch ihre Schwächen auf. In der virtuellen Welt reagiert der Mensch, die Laborratte oder der Affe eben nicht immer genauso wie unter freiem Himmel – ohne Beobachter, die ihn festbinden und in eine Röhre zwängen. Hier meint der Autor dieses Artikels, dass Tierversuche die medizinische Forschung zwar weiterbringen können. Dennoch sollte sie der Wissenschaftler ständig auf ihren Sinn und deren Analogie mit dem Menschen, seinem Verhalten und seinen physiologischen Reaktionen hinterfragen. Mit dem Wissen um die Grenzen der virtuellen Realität lässt sich damit erfolgreich arbeiten.