Assistenzärzte in Polen verdienen nur 700 Euro im Monat. Deshalb arbeiten sie in mehreren Kliniken gleichzeitig – bis zur völligen Erschöpfung. Mit einem Hungerstreik protestieren sie gegen diese Bedingungen. Auch in Deutschland ist die Arbeitsbelastung für Assistenzärzte hoch.
Wer dieser Tage die Eingangshalle der Kinderklinik in Warschau betritt, wird vom Anblick überrascht sein: überall auf dem Boden liegen Isomatten und Kissen verstreut, Menschen in T-Shirts und Jogginghose sitzen darauf. Ein paar tragen weiße Kittel. Sie lesen in Büchern, schauen aufs Smartphone oder unterhalten sich in kleinen Gruppen. Daneben stehen literweise Getränkeflaschen, doch Essen sucht man erstmal vergeblich. Was wie ein Ferienlager anmutet, hat einen ernsten Hintergrund. Polens Ärzte machen mit Schlagzeilen auf sich aufmerksam. Rund 20 Ärzte eines Warschauer Kinderkrankenhauses befinden sich seit fast drei Wochen im Hungerstreik – für eine faire Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen.
Der Verband der Nachwuchsmediziner, der den Streik organisiert, klagt über starken Personalmangel und lange Wartezeiten für Patienten. Schon im vorigen Jahr hatte es Proteste von polnischen Assistenzärzten gegeben, die das chronisch unterfinanzierte Gesundheitssystem in Polen kritisieren.
Tod durch Überarbeitung
Anlass für den aktuellen Hungerstreik war der Tod der erst 39-jährigen Ärztin Justyna Kusmierczyk. Sie starb völlig unerwartet vor drei Wochen. Als Auslöser vermutet man Tod durch Überarbeitung nach vielen Stunden Dienst. Justyna ist kein Einzelfall. Immer wieder sind in den vergangen Jahren polnische Ärzte nach der Arbeit zusammengebrochen. Ein 59-jähriger Chirurg starb an einem Herzinfarkt, nachdem er seinen 24-Stunden-Dienst beendet hatte und eine weitere obligatorische Schicht vor sich hatte.
Die 28-jährige Psychiaterin Katarzyna Kuzmiak berichtet: „Ich hatte die Situation nach einer Bereitschaft, dass ich im Auto saß, meine Augen begannen zu zittern und zu zucken. Ich wusste nicht, ob ich noch heil nach Hause komme". Katarzyna gehört zu den Ärzten, die aus Protest in Hungerstreik getreten sind. Sie selbst musste diesen nach 5 Tagen bereits wieder aufgeben, da der Nahrungsverzicht sonst ihre Gesundheit gefährdet hätte.
Lange Arbeitszeiten und wenig Lohn
„Wir studieren jahrelang und ehrerbietig Medizin, um diesen großartigen Beruf zu ergreifen. Doch wenn wir den Praxiseinstieg wagen, werden wir jäh aus unseren Träumen gerissen. Die Realität in den Krankenhäusern trifft uns mit voller Wucht“, erzählt der angehende Frauenarzt Tomasz aus Warschau. Das Problem sind nicht nur die langen Arbeitszeiten, sondern auch das unangemessen niedrige Gehalt der angehenden Fachärzte. So verdient ein Assistenzarzt nur etwa 700 Euro im Monat. Samit verdienen die angehenden Fachärzte zwar etwas mehr als den polnischen Mindestlohn, der bei umgerechnet 470 Euro liegt, doch die Mieten in Warschau sind angestiegen. Mindestens 300 Euro müssen die Mediziner für eine Einzimmerwohnung einplanen, 500 Euro kostet eine Zweizimmerwohnung. So bleibt kaum noch etwas für die restlichen Lebenshaltungskosten übrig. Für weitere medizinische Qualifikationen oder gute Fachbücher fehlt das Geld erst recht.
Hiermit verzichte ich auf Freizeit
Die Folge: Fast alle Ärzte haben mehrere Arbeitsstellen oder arbeiten Zweifach- und Dreifachschichten, um über die Runden zu kommen. Der Warschauer Arzt Krzysztof Halabuz erzählt: „Ich bin in der Abteilung für allgemeine Chirurgie angestellt, da arbeite ich täglich von 8 Uhr bis 15 Uhr, außerdem habe ich Schichten im Rahmen meiner Spezialisierung als Notarzt und übernehme in einem anderen Krankenhaus Nachtdienste. Normalerweise arbeite ich über 300 Stunden pro Monat. Das Gesetz verbietet das eigentlich, aber seit etwa zehn Jahren können Ärzte eine sogenannte Opt-out-Klausel unterschrieben, mit der sie auf Freizeit verzichten."
In Polen werden nur etwa 4,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Gesundheitssystem ausgegeben, das entspricht circa 20 Milliarden Euro. Polen landet damit in der EU im letzten Drittel auf Platz 36. Zum Vergleich: Deutschland gab 2015 rund 340 Milliarden Euro für die Gesundheit aus. Dies entspricht einem Anteil von 11,3 Prozent des Bruttoinlandproduktes. Die polnischen Ärzte fordern die Politik auf, jetzt zu handeln. Sie streben eine Erhöhung der Ausgaben auf 6,8 Prozent (ca. 27 Milliarden Euro) an, sowie einen Anstieg der Gehälter.
Der nächste freie Termin: im Jahr 2021
Auch die Patienten haben unter den Umständen zu leiden. Frauen müssen fast ein Jahr lang auf eine notwendige Brustkrebsbehandlung warten. Kinder, die dringend kardiologisch abgeklärt werden müssen, warten rund vier Monate. Tomasz berichtet: „Zuletzt kam eine Patientin mit Grauem Star zu mir und fragte nach einer künstlichen Linse. In anderen Ländern wird so etwas sofort gemacht. Ich musste sie auf das Jahr 2021 verweisen, erst dann wäre wieder ein solcher Behandlungstermin frei gewesen“.
Auf 1.000 Patienten kommen in Polen gerade einmal 2,2 Ärzte. Der 29-jährige Anästhesist Michael kritisiert, dass die hohe Arbeitsbelastung ihm nicht erlaube, seine Patienten gewissenhaft zu behandeln. So sei ein Mann nach einer erfolgreichen Behandlung im Krankenhaus gestorben: „Er ist erstickt, weil niemand ihm das Sekret nach einem Luftröhrenschnitt abgesaugt hat ", erzählt der Arzt. „Auf 40 Patienten auf der Station kamen nur zwei Krankenschwestern.“
Andere Ärzte wollen sich dem Hungerstreik anschließen
Der Weltärzteverband hat sich am vergangenen Freitag mit den hungerstreikenden Ärzten solidarisiert. Er forderte die polnische Regierung auf, das Leben der Krankenhausärzte zu schützen und für eine ausreichende Finanzierung des Gesundheitssystems zu sorgen. Die Ärzte anderer polnischer Städte haben angekündigt, sich dem Hungerstreik anzuschließen.
Vergangenen Mittwoch äußerte sich die polnische Regierung zum Sachverhalt. Regierungschefin Beata Szydlo versprach, dass 2018 der Etat für Ärztegehälter um 40 Prozent angehoben werden soll. Auch der Mindestlohn für die Nachwuchsärzte soll in den nächsten vier Jahren auf rund 1.200 Euro steigen. Insgesamt wolle man rund 1,5 Milliarden Euro zusätzlich in die Gesundheit investieren. Doch das geht den meisten jungen Medizinern nicht weit genug. „Das Gesundheitssystem erfordert unverzügliche Veränderungen sonst wird der Hungerstreik bis auf weiteres fortgesetzt“ sagt Tomasz. Mit einer einmaligen Gehaltserhöhung werde das Grundproblem nicht gelöst. Es ginge um eine generelle Veränderung des gesamten polnischen Gesundheitssystems.
Flucht ins Ausland
Während sich die älteren Ärzte meist mit der Situation abgefunden haben, gehen viele junge polnische Ärzte ins Ausland. Die polnische Ärztekammer schätzt, dass 10.500 Ärzte, mehr als 2.000 Zahnärzte und 17.000 Krankenschwestern Polen in den letzten Jahren verlassen haben. In den EU-Nachbarländern, vor allem in Deutschland, ist die Bezahlung deutlich besser. Trotzdem werden auch hierzulande das niedrige Gehalt und die langen Arbeitszeiten kritisiert. Ein deutscher Assistenzarzt verdient im Schnitt 4.400 Euro brutto als Einstiegsgehalt, das sich je nach Erfahrung und Berufsjahren erhöht.
Zunächst einmal klingt das ganz ordentlich, doch denkt man an die 6 ½ Jahre Studienzeit ohne Bezahlung, die langen Arbeitszeiten und die große Verantwortung gegenüber den Patienten, empfinden viele junge Ärzte diesen Lohn als unangemessen niedrig. Sven K., Assistenzarzt für Innere Medizin, meint: „Das ist lächerlich wenig Geld. Angestellte, die nur eine Ausbildung gemacht haben, kommen am Ende mit genauso viel Geld raus wie ich. Und sie haben nicht so lange studiert wie Mediziner und tragen nicht so eine hohe Verantwortung. Außerdem werden unsere Überstunden häufig nicht bezahlt, sodass wir mehr Stunden für den gleichen Lohn arbeiten müssen.“
Hinzu kommt, dass sie im praktischen Jahr, in dem viele Medizinstudenten häufig ähnliche Aufgaben wie junge Assistenzärzte übernehmen, gar nichts verdienen. Sie arbeiten ein Jahr Vollzeit, übernehmen wichtige medizinische Tätigkeiten und bekommen nicht einmal einen Euro pro Stunde – geschweige denn den gesetzlichen Mindestlohn. Ohne die PJ-ler würde die Stationsarbeit in vielen deutschen Kliniken zusammenbrechen, denn dann müssten die Ärzte diese Aufgaben zusätzlich übernehmen und die haben jetzt schon kaum Zeit, allen ihren medizinischen Pflichten nachzukommen.
Auch in Deutschland ist die Arbeitsbelastung hoch
Auch hierzulande gibt es Vorwürfe, Mediziner seien nach Überarbeitung gestorben. So wie es der Fall der 56–jährigen Krefelder Ärztin Olena L. nahe legt. Nach einer 24-Stunden Schicht verunglückte sie mit dem Auto als sie auf die Gegenfahrbahn gelangte. Ein anonymes Schreiben an die Staatsanwaltschaft erhob schwere Vorwürfe gegen die Klinik der verstorbenen Ärztin. Laut diesem Schreiben habe die Ärztin nicht 24, sondern 26,5 Stunden arbeiten müssen. Den Vorgesetzen von Olena wirft der anonyme Schreiber vor, sie würden ihre Angestellten massiv unter Druck setzen, „mehr leisten zu müssen, als sie sich selbst zutrauen." So hätte die verunglückte 56-Jährige angeblich mehrfach betont, dass sie nicht in der Lage sei, einen Bereitschaftsdienst über 24 Stunden zu verrichten.
Wenig Schlaf, hoher Druck und kaum Freizeit ist für viele Ärzte Alltag. In einer Umfrage des Marburger Bunds von 2015 gab die Hälfte der befragten Mediziner an, bis zu 59 Stunden pro Woche zu arbeiten. Drei Prozent sagten, sie arbeiten bis bis zu 80 Stunden pro Woche, wobei die Dunkelziffer wohl sehr viel höher liegt.
Die in den Tarifverträgen festgeschriebene durchschnittliche Höchstarbeitszeitgrenze von bis zu 60 Stunden pro Woche kann von jedem vierten Klinikarzt nicht eingehalten werden. Dabei wünschten sich 90 Prozent der Befragten eigentlich eine Arbeitszeit von unter 48 Stunden pro Woche. Die Hauptlast der Bereitschaftsdienste tragen dabei die jungen Assistenzärzte, die durchschnittlich 5-6 Dienste pro Monat absolvieren. Kein Wunder, dass Überstunden an der Tagesordnung sind, denn viele Stationen sind zudem unterbesetzt.
Dazu kommt der Leistungsdruck, unter dem die Berufsanfänger stehen. Die jungen Ärzte sind häufig ziemlich schnell komplett alleine für eine Station schwerstkranker Menschen verantwortlich. Die Versagensangst und die Angst, Fehler zu machen, sind groß. In kaum einem anderen Beruf trägt man eine so hohe Verantwortung wie als Mediziner. Jede Entscheidung kann Auswirkungen auf die Gesundheit und sogar das Überleben der Patienten haben. Laut der Umfrage des Marburger Bunds fühlen sich 60 Prozent der Ärzte psychisch belastet. Depressionen und Burn-Out können die Folge sein.
Streik in Deutschland? Fehlanzeige.
Auch in Deutschland fehlen Ärzte. Besonders auf dem Land, aber auch in Großstädten haben junge Mediziner heutzutage kaum mehr Probleme eine Stelle zu finden. Eigentlich eine gute Verhandlungsposition. Warum also hört man hierzulande kaum von Streiks für bessere Arbeitsbedingungen und für mehr Gehalt? Viele junge Assistenzärzte ertragen ihre Situation, da sie von den Vorgesetzten abhängig sind.
In der Facharztausbildung ist man auf ein gutes Verhältnis zum Chef angewiesen, denn er ist verantwortlich für die Bescheinigung der erlernten ärztlichen Tätigkeiten und damit auch indirekt dafür, wie schnell man seinen Facharzt erlangen kann. Zudem wollen viele Mediziner ihre Patienten nicht im Stich lassen. Würden alle jungen Assistenzärzte einer Klinik die Arbeit niederlegen, könnten wichtige Operationen und Therapien nicht mehr durchgeführt werden. Wer will schon für eine verschlechterte Gesundheitssituation der Menschen verantwortlich sein, die man eigentlich nach bestem Gewissen behandeln möchte.
Allerdings ändert sich auch nichts, wenn man die Situation nur hinter vorgehaltener Hand kritisiert. Der große Ärztestreik in Deutschland von 2006 – der erste Streik von angestellten Ärzten überhaupt – zeigte, dass solch drastische Maßnahmen von Erfolg gekrönt sein können. Damals haben sich die Ärzte nach monatelangem Streik auf einen Tarifvertrag mit mehr Lohn geeinigt – den ersten ärztespezifischen Tarifvertrag überhaupt. Wir haben in Deutschland natürlich ungleich bessere Arbeitsbedingungen und Gehälter als in Polen oder anderen Ländern, doch ist das kein Argument dafür, die Situation einfach hinzunehmen. Auch das deutsche Gesundheitssystem bräuchte Reformen, um die Arbeitsbedingungen der Ärzte und die Behandlung der Patienten zu verbessern.