Nach 27 Dienstjahren nahm Fräulein Meyer im Alter von 61 Jahren die Abfindung ihrer Bank an als die örtliche Filiale aus Rationalisierungsgründen geschlossen wurde. Mit dem Tag ihrer Kündigung wurde sie krankgeschrieben und depressiv. Oder depressiv und krankgeschrieben...
Zu meinen unliebsamen Aufgaben in der Klinik gehören die Sozialmedizinischen Stellungnahmen. Je älter die Patientin oder der Patient und je schwieriger die berufiche Vermittelbarkeit, desto grösser der Ärger. Was ich menschlich sehr gut verstehe.
Aber Fräulein Meyers habe ich halt in der ein oder anderen Form häufiger. Ganz offensichtlich besteht eine Absprache oder stille Erwartung, dass über 78 Wochen Krankschreibung und anschliessenden 2 Jahren Arbeitslosigkeit eine Art vorzeitiger Ruhestand gelöst ist. Zumindest war das der erklärte Fahrplan von Fräulein Meyer, die sich erstaunlich gut und auf den Tag genau mit den Regelungen auskannte. Natürlich gibt es zahlreiche Fräulein Meyers und Mister Rights, die tatsächlich durch eine so fiese späte Kündigung mit 61 oder 62 Jahren in eine existentielle Krise geraten. In diesem Fall aber hat die Patientin halt die Abfindung kassiert und möchte jetzt das beste aus 2 Welten haben. Menschlich verständlich. Und tatsächlich hatte sich die Patientin den Übergang in den Ruhestand auch wesentlich positiver vorgestellt. Der Wegfall von sozialen Kontakten und der Tagesstruktur hat nun wirklich zu einer Anpassungsproblematik geführt. Das war nun ganz und gar nicht leicht. Aber auch nicht schwerer als bei anderen Mitbürgern, die nun den Arbeitsplatz verlieren. Aber ist dieses "Störung" nun so schwerwiegend, dass sie gar nicht mehr auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt 3 h am Tag oder 15 h in der Woche eine Tätigkeit nachkommen könnte ? "In meinem Alter finde ich doch nichts mehr", so Fräulein Meyer im Gespräch. Das mag ja prinzipiell richtig sein. Aber eben technisch gesehen ein Problem der Arbeitslosenversicherung bzw. der Arbeitsagentur. Nicht zwigend der Rentenversicherung oder Krankenkasse. Wobei die Arbeitsagentur ja gerne sagt, dass die Vermittelbarkeit bei einer Krankschreibung durch den Arzt nicht gegeben ist... Wobei sich die Katze wieder in den berühmten Schwanz beisst. Formal muss ich Fräulein Meyer also leistungsfähig entlassen. Was ihr Hausarzt nicht verstehen kann. Und sie weiter krankschreibt. Würde Sie das Arbeitslosengeld antasten müssen, würde die Abfindung angerechnet werden. Und sie müsste die schicke 70 qm Wohnung möglicherweise opfern, wenn sie denn unglücklicherweise in Hartz IV rutschen würde. Spätestens dann, wäre sie ja wieder depressiv.
Also wird sie nach allen Regeln der Kunst weiter streiten und dann solange Übergangsgeld bekommen, bis sich das Problem irgendwie ausgesessen hat.
Mich würde interessieren, wie andere Kollegen diese Krankschreibungen regeln bzw. welche Gedanken dahinter stehen. Vielleicht bin ich ja auf dem berühmten Holzweg....