Monsieur T. ist mir besonders ans Herz gewachsen. Einfach so. Heute geht es ihm zum Glück gut. Den Umständen entsprechend. Er lächelt das elfköpfige Team aus Assistenzarzt, zwei Oberärzten und Studenten freundlich an.
Nach einem kurzen Tiefpunkt nach der OP letzte Woche – die Orthopäden hatten ihm einen stützenden Gammanagel in seinen linken Oberschenkel eingesetzt, der durch eine Metastase geschwächt war und schmerzte – geht es bergauf.
Seit zwei Tagen kann er wieder laufen, jetzt sitzt er in seinem Sessel und obwohl seine Sitzhaltung noch nicht ganz bequem aussieht, ist er zufrieden. Endlich keine Schmerzen mehr. Das macht schon einen großen Unterschied. Die Oberärztin freut sich ebenfalls. Allen ist das schwere Schicksal des 64-Jährigen bewusst.
Ein Melanom, ein bösartiger Hautkrebs, der sich fatalerweise unbemerkt entwickeln konnte, hatte gestreut und den Körper des drahtigen gepflegten Mannes erobert. Die Überlebenswahrscheinlichkeit in fünf Jahren beträgt bei einer solchen Diagnose und den gegenwärtigen medizinischen Therapiemöglichkeiten nur 5 Prozent. In anderen Worten: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent wird Monsieur T. die nächsten fünf Jahre nicht erleben.
Warum mag ich diesen Patienten?
Dabei war er bis vor kurzem noch topfit. Doch es hilft ja nichts. Er stellt sich seinem Schicksal, lässt Chemo- und Radiotherapie über sich ergehen, ist dankbar über die OP am Oberschenkel, die ihm Autonomie und Lebensqualität zurückgegeben hat. Wie kommt es, dass mir Monsieur T. so sympathisch ist? Ist es reine menschliche Anteilnahme angesichts seiner niederschmetternden Diagnose oder ganz einfach zwischenmenschliche Sympathie, von seiner Krankheit ganz abgesehen? Viel weiß ich nicht über ihn. Gut versorgt wird er von seinen Kindern, auf seinem Nachttisch stehen frische Feigen und Walnüsse. Sein Blick hat es mir angetan. In ihm, so kommt es mir zumindest vor, liegt Weisheit und (ein großes Wort schießt mir in den Sinn) Güte. Und trotz seiner schweren und demütigenden Erkrankung: Würde.
Das Klinikessen ist nicht halal
Sein Bettnachbar Monsieur O. ist ebenfalls sehr nett, aber etwas einfacher gestrickt. Zwischen den beiden Herren ergeben sich nette Gespräche. Ist es in Ordnung, die Krankenhausgerichte samt Fleisch zu essen? Halal sind sie nicht. Monsieur O. stammt aus dem Senegal, Monsieur T. aus Nordafrika. Beide sind muslimischen Glaubens, neben seinem Bett hat Monsieur O. seine Gebetskette liegen. Was die Ernährung betrifft, findet er allerdings, dass eine Ausnahme drin ist.
„Gott wird schon verstehen, dass es hier im Krankenhaus nichts anderes gibt und ich dann also das hier esse.“, rechtfertigt er sich. Seine Körperfülle lässt vermuten, dass er allgemein ein guter Esser ist.
Monsieur T. sieht das anders. Er hält sich streng an die islamischen Essensgebote und fern vom Fleisch. Dabei ist es gerade für ihn wichtig, bei Kräften zu bleiben; eine Chemotherapie schlaucht gewaltig.
Sicherlich kann sich ein Krankenhaus nicht an jede Diät seiner Patienten zu 100 Prozent anpassen. Vegan, low carb, was es nicht alles gibt heutzutage. Aber oberste Priorität sollte doch sein, dass alle genug und ausgewogen zu essen bekommen, um genesen zu können? Und in Frankreich gibt es in einigen Regionen nun mal sehr viele Muslime, unter anderem im Versorgungsgebiet unserer Klinik. Da müsste ich mal die Diätologin befragen, die ich neulich in der Kantine kennen gelernt habe. Wie ihre Meinung und die gegenwärtige Haltung der Krankenhausleitung zu diesem Thema ist, interessiert mich.
Momente in der Visite
Heute hat Monsieur O. einen Termin beim Amt, es geht um die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. In der Visite wird besprochen, wie der Transport organisiert werden kann. Auch bei solchen irgendwie banalen Themen reden die Ärzte mit. Oberärztin Dr. P. äußert ihre Bedenken:
„Verstehen Sie, so etwas kann ja dauern und ein Taxi wird nicht zwei Stunden auf Sie warten können.“
Monsieur O. widerspricht vehement. „Aber nein! Ich warte da nicht, zehn Minuten und ich bin durch.“
Dr. P. kann es kaum glauben. „Sind Sie sicher?“
Monsieur O. nickt energisch. „Aber klar. Ich mache einen auf behindert und überspringe die Warteschlange.“
Er zeigt auf seinen Stumpf. Letztes Jahr hat sich das Kaposi-Sarkom, dass ihn schon seit über 30 Jahren begleitet hat, so schlimm entwickelt, dass eine Amputation unerlässlich war. Keiner kann sich ein Lächeln verkneifen, zwei Studenten prusten regelrecht los. Auch Monsieur T. grinst über seinen etwas plumpen Bettnachbarn. Monsieur O. ist etwas überrascht, eigentlich wollte er gar keinen Witz machen. Nun lächelt er aber ebenfalls.
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