Ich bin ratlos: Dieser eine Patient bereitet mir eine Mischung aus Spannungskopfschmerz und Migräne. Man möge mir hier die etwas pointierte Darstellung des Verlaufs nachsehen. Es geht mir im Kern um die Frage: Wenn ein Patient unter Verweis auf seine Krankheit die Behandlung derselbigen nicht zulässt oder nicht zulassen kann, was machen wir dann?
Einer unserer Patienten ist migränegeplagt. Ein Schicksal, das ich gut nachempfinden kann. Ein Schicksal, das ich teilweise sogar aus eigener Erfahrung kenne und keiner Person wünsche. Ich habe also durchaus Verständnis für chronische Kopfschmerzpatienten. Ich möchte gerne, dass sie gut aufgeklärt und möglichst optimal behandelt werden. Oder dass man halt schaut, ob die Umgebungsfaktoren und sonstigen Einflüsse eine wesentliche Rolle spielen. Hauptsächlich möchte ich, dass überhaupt sowas wie eine Therapie stattfinden kann.
Herr Breisig gibt an, an 10–12 Tagen im Monat jeweils 2–3 Tage eine Migräne ohne Aura zu haben. Das wären so ziemlich 20–36 Tage im Monat. Auf die Migräneattacken folgt eine Abklingphase, in der er sich nicht belasten könne, damit keine neue Attacke entstehe. Die Migräne trete praktisch immer morgens auf. Nachmittags- und Abendaktivitäten wie sein Fußballtraining oder andere Dinge könne er absolvieren. Aber eben nicht Arbeiten, weil er dann Migräne bekomme. Und das, obwohl schon zweimal der Arbeitsplatz gewechselt wurde.
Zahlreiche Klinikaufenthalte und kein Erfolg
Es erfolgte unter anderem eine Behandlung in einer sehr bekannten norddeutschen Schmerzklinik. Wobei die Behandlung, böswillig ausgedrückt, im Kern darin bestand, dass Herr Breisig wegen der Migräne nicht an der Therapie teilnehmen konnte. Und außerdem wegen der Migräne keine Migräneprophylaxe einnehmen konnte. Und natürlich auch keine Verhaltenstherapie machen und nicht am Stressmanagement oder an Entspannungsverfahren teilnehmen konnte. Antidepressiva konnte er schon gar nicht nehmen. Bloß keine Antidepressiva.
Gegen die Migräneattacken wurden 600 mg Ibuprofen und Sumatriptan eingesetzt. Bei Bedarf. Beim besten Willen ist aber nicht zu erfahren, wie häufig der Bedarf war oder aktuell ist. Sumaptripan führte dazu, dass die Konzentration und Leistungsfähigkeit soweit reduziert wird, dass Herr Breisig an den weiteren Therapien und Aktivitäten des täglichen Lebens nicht teilnimmt. Nicht teilnehmen kann. Was er aber sehr wohl kann: Umfangreiche Schriftsätze an Ärzte, die Rentenversicherung und Sozialgerichten verfassen. Hier in der Klinik ist er außerdem quasi der Rädelsführer einer Gruppe von Patienten, die sich grundsätzlich ungerecht von den Gutachtern und der Arbeitswelt bewertet fühlen. Immer und überall. Sympathiepunkte gewinnt Herr Breisig damit nicht.
Was war zuerst: Migräne oder Kopfschmerz?
Da Herr Breisig hier in der Klinik doch recht häufig nach 17 Uhr zum beliebten Kneipentreff unterwegs ist, hätte ich gerne ein Kopfschmerztagebuch. Oder zumindest eine gewisse Kontrolle darüber, wie häufig er nun Sumatriptan einnimmt oder auch nicht einnimmt. Das ginge zu weit, fand Herr Breisig. Immerhin brauche er das Sumatriptan ganz einfach dann, wenn er es brauche.
Herr Breisig ist depressiv. Ganz deutlich depressiv. Da er aber nicht an den Therapien mitwirken oder einen Selbstauskunftsbogen ausfüllen kann – er hat ja schließlich Migräne –, wissen wir nicht so recht, ob die Depressionen nun eine Folge der Migräne sind.
Was wir wissen: Antidepressiva kann er nicht nehmen. Entweder, weil sie zu einer Leberwerterhöhung führen. Oder weil sie zu Schwindel und Kopfschmerzen führen. Auf jeden Fall könne er keine Antidepressiva nehmen, sagt er. Weder in der weltweit anerkannten Schmerzklinik, noch bei uns in der kleinen Provinz-Reha.
Ich kann nicht leitliniengerecht behandeln
Natürlich könne er auch keinen Sport oder aerobes Ausdauertraining machen, sagt der Patient. Was er könne: sich erholen. Weiter führt er an, er hätte in der Klinik gelernt, dass es grundverkehrt sei, sich nach einer Migräneattacke sofort wieder zu belasten, da ja die Migräne weiterlaufe. Wo Herr Breisig recht hat, da hat er recht. Oder?
Wenn es denn überhaupt eine Migräneattacke ist. Und geht man davon aus, dass es sich tatsächlich um eine Migräneattcke handelt, dann muss ich als Arzt eben auch nach den Leitlinien behandeln können. Und ich finde, dass man als Patient eine gewisse Mitwirkungsverantwortung zeigen sollte, was die Umsetzung dieser Empfehlungen angeht.
Versuchen könnte man es ja mal
Nun geht die Geschichte vor das Sozialgericht, da ja nachweislich keine der Behandlungen greifen und die Gutachter trotzdem sagen, dass Herr Breisig auf dem existierenden Arbeitsplatz für Schwerbehinderte einsetzbar wäre. Sechs Stunden und mehr, unter der Voraussetzung, dass er sich behandeln lassen und die Therapievorschläge einmal ausprobieren würde.
Dann könnte es sein, dass man die Anzahl, Intensität und Dauer der Migräne beeinflusst – ob das tatsächlich gelingt, weiß ich natürlich auch nicht, ich bin ja nur Arzt und kein Hellseher. Was aber tun, wenn sich die Katze selber in den Schwanz beißt?