Typ-2-Diabetiker und Ärzte nehmen Diäten als Therapiemaßnahme nicht ernst. In einem neuen Studienprogramm wurde die Hälfte der Erkrankten durch Gewichtsverlust geheilt: Teilnehmer verloren im Mittel nach einem Jahr 10 kg, die Standardtherapie-Gruppe nur ein Kilo.
Diabetes mellitus Typ 2 muss kein lebenslanges Schicksal sein, eine Heilung ist möglich – und zwar ohne Operation, ohne Insulin und ohne Antidiabetika. Im Mittelpunkt der von Diabetes UK finanzierten DiRECT-Studie („Diabetes Remission Clinical Trial“), deren Ergebnisse jetzt von dem britischen Forscherteam um Michael Lean (Glasgow) und Roy Taylor (Newcastle) präsentiert wurden, stand ein radikales Gewichtsreduktionsprogramm, das durch Hausarztpraxen medizinisch begleitet wurde.
Fast die Hälfte der teilnehmenden übergewichtigen Typ-2-Diabetiker hatte nach einem Jahr völlig ohne Arzneimitteltherapie normale Blutzucker- und oft auch wieder normale Blutdruckwerte. Die Erfolgsrate war dabei proportional zur erzielten Gewichtsabnahme. Damit sieht sich Roy Taylor bestätigt, dessen „Twin Cycle“-Hypothese postuliert, dass das pathophysiologische Hauptproblem des Diabetes Typ 2 die Verfettung von Leber und Bauchspeicheldrüse ist – und eben diese Verfettung wird mit der hier untersuchten, sog. „Conterweight-Plus“-Diät beseitigt.
Ernährungstherapie – Resignation – Metformin
Die Idee, einen Diabetes Typ 2 vorrangig diätetisch zu therapieren, ist alles andere als neu – weshalb die mediale Aufregung um die Studienergebnisse doch etwas überrascht. So steht im aktuellen Therapiealgorithmus der Nationalen VersorgungsLeitlinie Typ-2-Diabetes die sogenannte „Basistherapie“ mit Patientenschulung, Ernährungstherapie und Steigerung der körperlichen Aktivität an erster Stelle – und damit vor dem Beginn irgendeiner medikamentösen Therapie. Erst wenn diese Maßnahmen erfolglos bleiben, soll gemäß Leitlinie überhaupt mit der Einnahme von Antidiabetika (in aller Regel Metformin) begonnen werden. Angesichts der bekannten, fast regelhaft vorliegenden Schwierigkeiten, Patienten mit Diabetes Typ 2 zu einer nachhaltigen Lebensstil-Modifikation inkl. wirksamem Ernährungs- und Gewichtsmanagement zu bewegen, wird diese Leitlinienempfehlung aber oft fast als „pro forma“ angesehen.
Dass jedoch eben diese Lebensstil-Modifikationen nicht nur theoretische Empfehlungen sind, sondern dass mit ihrer konsequenten Umsetzung ein sehr großer Teil der Diabetes Typ 2-Erkrankungen praktisch heilbar sind, zeigen die aktuellen Studienergebnisse. Nicht nur aus patientenindividueller Perspektive, sondern vor allem aus Public-Health-Sicht sollten die Ergebnisse daher dringend zu konkreten Maßnahmen führen; hier zeigt sich nicht nur das erhebliche therapeutische, sondern vor allem auch das enorme präventive Potenzial diätetischer Interventionen.
So funktioniert das Counterweight-Plus-Programm
An der Studie nahmen 298 übergewichtige Patienten mit Diabetes Typ 2 teil (Alter 20-65 Jahre, BMI 27-45 kg/m²), die in 49 verschiedenen Hausarztpraxen betreut wurden. Die Diagnose des Diabetes lag dabei maximal sechs Jahre zurück. Diese Einschränkung ist vor dem Hintergrund wichtig, dass in späteren Krankheitsstadien der Diabetes durch die Schädigung der Insulin-produzierenden Bauchspeicheldrüsen-Zellen schwerer bis gar nicht mehr reversibel ist. Ob eine teilnehmende Hausarztpraxis für ihre Patienten das „Counterweight-Plus-Programm“ oder die Standardtherapie durchführte, wurde nach dem Zufallsprinzip bestimmt; die Ernährungsinterventionen wurden durch Ernährungsfachkräfte oder geschulte Arzthelferinnen begleitet.
Zu Beginn nur Flüssignahrung
Die Patienten der Standardtherapie erhielten die leitliniengemäße Antidiabetika- und ggf. Bluthochdruck-Therapie. Die Diättherapie der Interventionsgruppe dagegen begann drastisch: Für die ersten drei bis fünf Monate mussten die Teilnehmer komplett auf konventionelle Mahlzeiten verzichten und ernährten sich vollständig über orale Trinknahrungen. Die Kalorienzufuhr dieser Formuladiäten betrug dabei 825 – 853 kcal pro Tag (59 E% Kohlenhydrate, 13 E% Fett, 25 E% Protein); zudem setzten die Patienten mit Beginn der Diät sowohl ihre blutzucker- als auch ihre blutdrucksenkenden Medikamente ab.
Im Anschluss folgte über zwei bis acht Wochen die Wiedereinführung üblicher Nahrungsmittel (50 E% Kohlenhydrate, 35 E% Fett, 15 E% Protein). Danach sollten die Patienten eine gesunde Normalkost selbständig fortsetzen, wobei sie mit einer monatlichen Diätberatung unterstützt wurden. Außerdem wurden die Patienten während der gesamten Studie zu gesteigerter körperlicher Aktivität animiert.
Als Remission des Diabetes („Diabetes-Heilung“) wurde ein HbA1c-Wert von unter 6,5 % nach zwölf Monaten ohne Einnahme blutzuckersenkender Medikamente definiert.
Hälfte der Diabetes-Erkrankungen nach einem Jahr geheilt
Von den 149 Studienteilnehmern pro Gruppe nahmen 129 Patienten der Diätgruppe (86 %) und 147 Patienten der Kontrollgruppe (99 %) an der Abschlussuntersuchung nach zwölf Monaten teil. 24 Prozent der Patienten der Diätgruppe erreichten dabei eine Gewichtsreduktion um mindestens 15 kg, dagegen kein Patient der Kontrollgruppe. Im Mittel wurde im Studienzeitraum von einem Jahre in der Diätgruppe eine Gewichtsreduktion von 10 kg erzielt, in der Kontrollgruppe eine Gewichtsreduktion von 1 kg.
Während es in der Diätgruppe bei 46 % der Patienten nach einem Jahr zur Diabetes-Remission kam, war dies in der Kontrollgruppe nur bei 4 % der Patienten der Fall. Statistisch war die Diättherapie damit rund 20 Mal so erfolgreich wie die hausärztliche Standardtherapie (odds ratio: 19,7). Angesichts dieser drastischen Zahlen muss man sich noch einmal klar machen, dass die Patienten der Kontrollgruppe ja nicht keine Therapie erhielten, sondern die auch bei uns übliche, leitliniengerechte medikamentöse Standardtherapie mit Antidiabetika.
Therapieerfolg abhängig von Gewichtsreduktion
In der weiteren Analyse konnte gezeigt werden, dass der Therapieerfolg proportional zur Gewichtsabnahme der Patienten war: Während keiner der Patienten, die zugenommen hatten, eine Diabetes-Remission erreichte, stieg der Anteil der Diabetes-Remission direkt mit dem Ausmaß der Gewichtsreduktion an:
Am Rande: Die Gewichtsreduktion führte auch zu einer deutlich besseren Lebensqualität und einem derartig verbesserten Blutdruckprofil, dass rund die Hälfte der Patienten nach Ende der Studie vollständig auf blutdrucksenkende Medikamente verzichten konnte.
Keine Nebenwirkungen
Außerdem war die Diät-Intervention praktisch nebenwirkungsfrei; lediglich bei einem einzigen Patienten kam es (vermutlich diätbedingt) zu einer Gallenkolik, doch auch dieser Patient setzte die Therapie im Anschluss fort. Kein Patient der Interventionsgruppe brach die Diättherapie aufgrund schwerer unerwünschter Wirkungen ab. Nun sollen die Patienten nachbeobachtet werden, um die weitere Gewichts- und Diabetesentwicklung zu verfolgen.
Einmal Diabetes – immer Diabetes? Das ist falsch.
Noch immer gilt die landläufige Meinung: „Einmal Diabetes – immer Diabetes“. Für Diabetes Typ 1 trifft das zu. Und auch für Diabetes Typ 2 scheint die tägliche Praxis diese Meinung zu bestätigen, doch die Ursache dieses Zusammenhangs liegt wohl nicht in der spezifischen Pathophysiologie, sondern vielmehr in den bisher gewählten, unzureichenden (medikamentösen) Therapiekonzepten. Die aktuellen Studienergebnisse bestätigen frühere, kleinere Untersuchungen (Steven & Taylor 2015).
Und wenn man kritisch einwendet, dass die hier durchgeführte Diät-Intervention – insbesondere in den ersten Monaten der reinen Formula-Diät – ziemlich drastisch ist: Das stimmt, doch das sind die Alternativen wie bariatrische Operationen, jahrzehntelange medikamentöse Therapien oder gesundheitliche Langzeitfolgen eines Typ-2-Diabetes ebenso.
Auch die allzu häufige Erfahrung, dass es sehr schwer ist, Patienten mit Diabetes Typ 2 zu nachhaltigen Veränderungen ihrer Ernährungsgewohnheiten zu bewegen, muss angesichts dieser Daten hinterfragt werden. Möglicherweise waren die Erfolgsaussichten dieser „Basistherapie“ bisher vor allem deshalb so gering, weil sie zum falschen Zeitpunkt (zu spät) angeboten und/oder weil sie nicht mit dem entsprechenden Nachdruck verfolgt wurde. Selbstverständlich ist es etwas anderes, einem übergewichtigen Diabetiker zwischen Tür und Angel zu sagen: „Nehmen Sie doch mal etwas ab!“, als ihm wie hier ein engmaschig und professionell begleitetes, 12-monatiges Gewichtsreduktionsprogramm angedeihen zu lassen.
Selbst die Lebensqualität verbesserte sich unter der Diät
Die sehr geringe Abbrecherquote in der Diät-Gruppe zeigt vielmehr im Gegenteil, dass selbst drastische Diät-Konzepte mit hoher Therapieadhärenz umgesetzt werden können, wenn die Diät qualifiziert begleitet und unterstützt wird. Dies bestätigt der Blick auf die in der Studie erfasste Lebensqualität (EuroQoL-5-Skala): Während sich die Lebensqualität in der Interventionsgruppe (also trotz der drastischen Diät!) über den gesamten Zeitraum deutlich verbesserte, zeigte sich in der Kontrollgruppe mit medikamentöser Standardtherapie eine signifikante Verschlechterung der Lebensqualität. Dieser Aspekt ist sicherlich bemerkenswert, denn ein Hauptgrund, der in aller Regel gegen derartige Diätprogramme ins Feld geführt wird, ist die (postulierte) schlechtere Lebensqualität durch die Diätintervention. Auch dieses Argument ist mit der aktuellen Studie en passant widerlegt worden.
Kehrtwende der Diabetes-Therapie dringend erforderlich
Ein Diätprogramm, wie es im Rahmen der DiRECT-Studie durchgeführt wurde, ist sicherlich aufwendig und kostenintensiv, doch beides ist die medikamentöse Diabetes-Therapie auf Dauer auch. Offensichtlich gibt es wirksame Möglichkeiten der „Hilfe zur Selbsthilfe“, um einen Diabetes Typ 2 wieder loszuwerden. Kurzfristig ist es zwar einfacher, täglich Metformin-Tabletten zu schlucken, ohne das Verhalten zu ändern; angesichts der anrollenden Adipositas-Epidemie (mit allen Folgeerkrankungen und gesamtgesellschaftlichen Kosten) sollte der Blick aber ins Langfristige gehen.
In Deutschland sind Antidiabetika mit einem Jahresumsatz von 2,4 Milliarden EUR mittlerweile die zweitumsatzstärkste Arzneimittelgruppe. Das knappe Geld im Gesundheitssystem wäre in diätetischen Interventionsprogrammen sicherlich sinnvoller eingesetzt als in der Entwicklung und im Marketing immer neuer Antidiabetika oder in der Behandlung potenziell vermeidbarer Diabetes-Spätfolgen. Die Ergebnisse der DiRECT-Studie liefern weitere stichhaltige Argumente für eine drastische Kehrtwende in der Diabetestherapie (und -prävention!).
Ob diese wissenschaftlichen Erkenntnisse auf gesundheitspolitischer Ebene jemals umgesetzt werden – z. B. als Förderung entsprechend wirksamer Diätinterventionen – ist leider mehr als unwahrscheinlich. Die Gewinne der pharmazeutischen Industrie auf diesem Feld werden Motivation genug dafür sein, die politische Lobbyarbeit wie gewohnt effektiv weiterzuführen. Die Umsätze von Merck & Co. für die Sitagliptin-Präparate Januvia® und Janumet® betrugen 2016 knapp 40 Milliarden EUR (PZ 17/2017). Die Gesamtausgaben des Bundesgesundheitsministerium für Präventionsangebote lagen im gleichen Zeitraum dagegen bei läppischen 50 Millionen EUR.