Der schwer demenzkranke ehemalige Briefträger war fünf Jahre lang durch eine perkutane Magensonde ernährt worden, war jedoch komplett immobil und zu keiner Kommunikation mehr fähig. Er habe schwer gelitten und kaum mehr am Leben teilgenommen, stellte das Gericht fest.
Da kaum Aussicht auf Besserung bestand, sei die Fortführung der künstlichen Ernährung ein rechtswidriger körperlicher Eingriff und damit ein Behandlungsfehler. Als die Nachricht kurz vor Weihnachten durch die Medien ging, gab es heftige Kritik: „Werden wir jetzt gedrängt, lebenswertes von lebensunwertem Leben zu unterscheiden?‟, fragte ein Hausarzt.
Demenz, Pflegeheim, Lungenentzündung
Die „Zeit“ hatte bereits im Februar 2017 ausführlich über den Fall berichtet. Hier lässt sich die Geschichte gut rekonsturieren:
Heinrich S., Jahrgang 1929, muss ein einsamer Mensch gewesen sein. Zur Ex-Frau bestand nach der Scheidung kein Kontakt und auch das Verhältnis zum einzigen Sohn war schon distanziert, bevor dieser in die USA zog. Weitere Angehörige gab es nicht. Nach Depression und Alkoholkrankheit wurde bei Herrn S. 1996 eine Demenz diagnostiziert. Als der Sohn zu einem Besuch vorbeikam, fand er seinen Vater völlig verwahrlost vor und veranlasste eine Unterbringung in einem Pflegeheim sowie eine Betreuung durch einen gerichtlich bestellten Betreuer.
In den folgenden Jahren ging es bergab. Im September 2006 wurde Herr S. wegen einer Lungenentzündung stationär behandelt, er war mangelernährt und exsikkiert. Da er keine Nahrung mehr zu sich nehmen konnte, wurde im Krankenhaus zunächst eine nasogastrale Ernährungssonde, später dann eine PEG angelegt. Es ist anzunehmen, dass die Krankenhausmitarbeiter – wie üblich – dieses Vorgehen mit dem Betreuer besprochen hatten und dieser die Einverständniserklärung unterschrieben hatte.
Nach der Entlassung zurück ins Pflegeheim wurde die künstliche Ernährung von den Pflegekräften fortgeführt. Die Verantwortung dafür oblag nun dem Hausarzt, der die Sondenkost verordnen musste. Es wird berichtet, der Sohn habe dem Betreuer gegenüber Bedenken bezüglich der Sondenernährung geäußert, der Betreuer soll sich aber darüber hinweggesetzt haben.
Wie genau die Kommunikation zwischen Hausarzt, Betreuer und dem Sohn des Patienten in den folgenden Jahren abgelaufen ist, lässt sich aus den Presseberichten nur schwer nachvollziehen.
Tatsache ist, dass Herr S. weder in der Lage war, auf natürlichem Wege Nahrung zu sich zu nehmen, noch zu sprechen, sich kaum mehr bewegen konnte und seine Zeit mehr oder weniger regungslos im Bett und im Liegerollstuhl verbrachte. Gestorben aber ist er erst 2011, im Krankenhaus, an einer erneuten Lungenentzündung.
Daraufhin zog der Sohn vor Gericht und verklagte den Hausarzt: Die Sondenernährung hätte gestoppt werden müssen, durch die jahrelange Fortführung sei nur sinnloses Leiden verlängert worden.
In dubio pro Herrn S.
Außerdem verlangt der Sohn vom Hausarzt Ersatz für die Kosten der Heimunterbringung, die seien im Falle eines früheren Todes vermeidbar gewesen. Der Hausarzt hingegen argumentierte, er habe mehrere Gespräche mit dem Betreuer geführt und dieser habe nachdrücklich die Fortsetzung der Sondenernährung gewünscht. Daher gelte weiterhin der Grundsatz, dass im Zweifel dem Schutz des Lebens Vorrang eingeräumt werden müsse.
Das Oberlandesgericht München verurteilt den Hausarzt dennoch zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 40.000 Euro. Das Gericht stellte fest, dass der Hausarzt den Betreuer nicht ausreichend über die Situation und die Prognose informiert hätte: Möglicherweise hätte sich der Betreuer anders entschieden, wäre er besser informiert gewesen.
Viele Geriater und Palliativmediziner begrüßen das Urteil. Der vom Hausarzt zitierte Grundsatz „in dubio pro vita“ hat über viele Jahrzehnte hinweg das Verhalten der meisten deutschen Ärzte geprägt. Bei schwer leidenden Patienten, für die kaum eine realistische Hoffnung auf Besserung besteht, ist dieser Grundsatz allerdings nicht unumstritten. Jetzt hat – möglicherweise zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte – ein deutsches Gericht eindeutig gegensätzlich Position bezogen.
Eine ethische Gratwanderung, vor allem für Hausärzte
Das Urteil zwingt Ärzte dazu, die Indikation einer Sondenernährung bei schwer demenzkranken Patienten sorgfältig zu prüfen: und zwar nicht nur bei der Anlage der Sonde, sondern auch immer wieder im Verlauf.
Das ist nicht einfach. Ausschlaggebend ist der mutmaßliche Wille des Patienten. Wenn – wie in diesem Falle – der Wille nicht mehr feststellbar ist und es auch keine nahen Angehörigen gibt, wird das Ganze zur ethischen Gratwanderung. Zwar gibt es Leitlinien und gesetzliche Vorgaben, aber die sind längst nicht so klar und eindeutig, wie man es sich vielleicht wünschen würde. Klinikärzte können sich an ihr Ethik-Komitee wenden, aber Hausärzte fühlen sich oft allein gelassen und haben nicht immer die Möglichkeit, sich intensiv ethisch beraten zu lassen. Wichtig ist in jedem Fall die intensive Kommunikation (und ausführliche Dokumentation der Kommunikation) mit allen Beteiligten.
Aber was ist, wenn sich Ärzte, Pflegende, Betreuer und Angehörige nicht einig sind? Eigentlich hilft dann nur noch der Gang zum Betreuungsgericht. Aber das ist langwierig und kostet Zeit und Nerven – verständlich also, wenn man lieber den Weg des geringsten Widerstandes wählt und alles erstmal so belässt, wie es ist – was leider nicht immer zielführend ist, wie wir jetzt gesehen haben.