Die Ausbildung zum Arzt ist doch eigentlich sehr umfangreich. Und trotzdem: Neulich habe ich erst wieder festgestellt, dass ich viel zu wenig weiß. Es ging um Ohrlöcher. Oder bin ich in diesem Fall vielleicht gar nicht zuständig?
Auf meinem wunderbaren drehbaren und höhenverstellbaren Untersuchunsgstuhl sitzt ein junges Mädchen. Sie ist 15 Jahre alt und ist zum ersten Mal bei mir. Ich wähle bei der Beschreibung ihres Äußeren meine Worte nun sehr bedacht, um keinen Anstoß zur Kritik zu geben: Sie ist in einem außergewöhnlichen Maße an der Veränderung ihres wohl einst natürlichen äußeren Erscheinungsbildes interessiert.
Das äußert sich in einer aufwendig gesteckten und geflochtenen Frisur, an – soweit ich das beurteilen kann – hochmodernen und angesagten Designer-Kleidungsstücken, diversen Accessoires an den Extremitäten inklusive einer teuren Handtasche, einem XXL-Smartphone in goldglänzender Hülle beinahe mit der linken Hand verwachsen, an perfekt aufgetragenen Produkten der gegenüber liegenden Drogerie im gesamten Gesichtsbereich und an einer meine Nase und Sinne umschmeichelnden Duftnote, die meine Raumabluft wohl noch länger beschäftigen wird. Sie scheint gerade einem Modemagazin entsprungen zu sein.
Mutter und Tochter im Einklang
Muss ich wirklich noch ihre Mutter beschreiben, die sich hinter ihr aufstellt? Auf Anhieb zähle ich allein 25 sichtbare Gegenstände aus Kleidung und Schmuck an ihr. Wenn ich meine Socken und Schuhe einzeln rechne, habe ich neben Hose, Hemd und nicht sichtbarer Wäsche sieben Kleidungsstücke am Körper. Ach ja: mit dem Gürtel 8. Ein Mann hat es vielleicht einfacher.
Bevor ich dem gelungenen und geschmeidigen Auftritt der Damen eine Begrüßung folgen lasse, stelle ich noch fest, dass diese beiden individuellen Inszenierungen visuell und olfaktorisch harmonieren. Perfekt.
Während mir noch Gedanken über diesen Auftritt durch den Kopf schwirren, nehme ich die ersten verzweifelten Sätze der Mutter wie eine Stimme aus dem Off wahr. Ihre Tochter scheint ein massives Problem zu haben. Mein erster Gedanke ist, dass hoffentlich keine Träne dieses aufwendig aufgetragene Gesichtsbild zerstören möge. Oder ist die Schminke wasserfest? Wahrscheinlich.
So betonen Sie das Ohrläppchen richtig
Wie schaffen es die beiden Damen, traurig auszusehen, ohne auch nur einen Gesichtsmuskel, der eine Faltenbildung verursachen könnte, zu bewegen? Was ein leicht gesenkter Blick mit etwas mehr geöffnete Augen doch ausmachen kann? Weniger ist manchmal mehr.
So, jetzt atmen und konzentrieren! Die Stimme der Mutter wird in meinem Kopf klarer und sie zeigt mit ihrem perfekten Fingernagel auf das linke Ohr ihrer Tochter, nachdem sie das glänzende Haar etwas zur Seite gelegt hat.
Mein Blick fällt sofort auf das Ohrläppchen. Deutlich vergrößert, gerötet und fast glänzender und auffälliger als der Ohrstecker selbst. Nach kurzer Untersuchung zählt die Mutter rasch auf, welche Stecker ihre Tochter aus welchen Legierungen schon versucht hätte, ohne bleibenden Erfolg. Was könne man denn nun neben der akuten Erkrankung langfristig tun, um derartiges auszuschließen, fragt sie. Schließlich sei ich ein Ohrenarzt. Bei dem Wort „Ohren“, das sie besonders deutlich artikuliert, weisen ihre Finger aus einer harmonischen Bewegung heraus auf die Problemzone.
Bin ich Experte für Körperschmuck?
Wie gerne wäre ich jetzt ein Experte der Metallurgie. Die akute Therapie ist relativ simpel. Für die beiden kommt der generelle Verzicht auf einen Ohrstecker natürlich nicht in Frage. Schließlich habe man einen Ruf zu verlieren. Ob ich nicht ein Rezept über einen antibiotischen und antiallergischen Stecker ausstellen könne, möchten sie wissen.
Neben der Behandlung der aktuellen Entzündung empfehle ich als Kompromiss die Verwendung eines Kunststoffsteckers bis zur Abheilung und der Abklärung von möglichen Allergien beim Dermatologen/Allergologen. Beim Kauf von Schmuck empfehle ich, auf das Material zu achten. Generell würde ich auf jeden Fall auf Körperschmuck im Bereich der Atemwege und Stecker durch Knorpelgewebe verzichten.
Deutlich enttäuscht verlassen die beiden Damen die Praxis. Ich selbst steche keine Ohrlöcher. Damit bin ich auch kein Spezialist für Komplikationen. Mit Fremdmaterial in Form von Paukenröhrchen und Mittelohrprothesen kenne ich mich aus, aber wer weiß, welche Legierungen wirklich in diesen Steckern sind!