Tinnitus kann nicht nur nerven, sondern die Lebensqualität erheblich beeinflussen. Jeder Erklärungsversuch über die Ursache ist ebenso willkommen wie neue Therapieansätze. Aber leider verschwinden die meisten initial erfolgversprechenden Wundermittel rasch in den Ablagen der Archive. Ist die auditorisch- somatosensorische bimodale Stimulation aus den USA ein guter Ansatz?
Zum Thema Tinnitus habe ich vor einem halben Jahr einen Blogbeitrag über die Grundlagen geschrieben. Was hat sich in dieser Zeit getan? Die Universität von Michigan hat einen neuen Ansatz veröffentlicht.
Frau Wagner ist heute nicht die erste Patientin mit einem Tinnitus. Vor einigen Jahren hatte sie einen Hörsturz mit Folgen. Trotz intensiver Therapie hat sich weder ihr Hörvermögen noch ihr Tinnitus verbessert, nicht durch eine stationäre Therapie oder Medikamente. Sie trägt mittlerweile ein Hörgerät mit Tinnitus-Masker. Der Behandlungserfolg ist überschaubar. Wir stufen ihren Tinntitus als dekompensiert ein. Sie hat deutliche Schlaf- und Konzentrationsstörungen, musste den Beruf wechseln. Regelmäßig fragt sie nach neuen Erkenntnissen in der Forschung.
Herr Michelsen hatte letztes Jahr ein Knalltrauma. Letztendlich hat sich seine Hörminderung zurückgebildet, nachdem ich ihm lokal Cortison ins Mittelohr gespritzt hatte. Der Tinnitus ist aber nur wenig gebessert. Auch er ist an Neuigkeiten sehr interessiert.
Bisherige Erkenntnisse
Zusammengefasst sollte man nach jetzigem Stand in der akuten Phase eines Tinnitus eine medikamentöse Therapie anwenden und bei chronischem Tinnitus eine Verhaltenstherapie zur Modifizierung des Tinnituserlebens. Eine Empfehlung mit Maskern, Noisern, Musiktherapie oder neuromodulatorischen Ansätzen findet in den Leitlinien bisher keinen Platz, auch wenn es erfolgversprechende Ansätze gibt, wie z.B. Tinnitracks.
Die Indentifizierung und Behandlung eventueller Ursachen halte ich für selbstverständlich. Bei der Behandlung des chronischen Tinnitus sind fast ausschließlich unimodale auditorische Therapienasätze verfolgt worden. Müssen wir umfassender denken?
Die Rolle eines Nervenkerns
An welchem Ort des Hörsystems zwischen Cochlea und Cortex ist die Schädigung und damit der Ansatzpunkt der Therapie lokalisiert? Die Universität von Michigan hat sich in einer lesenswerten Arbeit mit dem Nucleus cochlearis dorsalis (DNC) befasst. Dieser ist in den letzten Jahren wegen seiner histologischen und physiologischen Ähnlichkeiten zum Kleinhirn vermehrt erforscht worden.
Es ist vorstellbar, dass es im Bereich des Hirnstamms frühzeitige Verknüfungen mit sensorischen und motorischen Kernen gibt, die beispielsweise bei der Lokalisation einer Geräuschquelle helfen und reflexartige Kopfbewegungen veranlassen.
Histologisch finden sich im DCN fusiforme Zelldendriten, die mit dem N. cochlearis synaptisch verbunden sind, somatosensorische Nerven aus dem Kopf- Halsbereich wiederum mit spindelförmigen Zelldendriten. Diese beiden Systeme können sich gegenseitig beeinflussen, indem sie eine kleinhirnähnliche Fähigkeit zur Synchronisierung besitzen.
Bei einer physiologischen Synchronisierung aus Langzeitpotenzierung (LTP) und -depression (LTD) stehen die weitergeleiteten Impulse in einem Gleichgewicht, das aber störanfällig ist.
Vorversuche im Meerschweinchenmodell
Nachdem im Rahmen einer Studie Meerschweinchen mit einem übermäßigen akustischen Reiz im Sinne eines Knalltraumas konfrontiert wurden, konnte eine erhöhte Aktivität im Bereich des DNC gemessen werden. Dies wurde als möglicher Ursprungsort eines Tinnitus bei ansonsten normaler Innenohrfunktion angesehen.
Um diese Aktivität zu senken, also eine LTD zu erhöhen, wurden die Tiere mit nur akustischen, nur somatosensorischen oder mit einer Stimulation aus beiden Reizarten behandelt. Eine Kontrollgruppe erhielt nur eine Scheinbehandlung. Die Aktivität der fusiformen Zellen im DCN sank ausschließlich in der bimodularen Therapiegruppe.
In weiteren Versuchen erfolgte eine Optimierung des Stimulusprotokolls, indem die Reizreihenfolge und der Abstand der Reize modifiziert wurden.
So konnte abschließend durch akustische Reizung mit 8 kHz und sensorischen Impulsen im Nacken der Tiere mit 20-minütiger Anwendung an 25 Tagen eine Veränderung der Eigenaktivität im DCN gemessen und auch tierexperimentell eine Abnahme des Tinnitus festgestellt werden. Könnte das ein Ansatz für eine zukünftige Therapie am Menschen sein?
Übertragung der Ergebnisse auf den Menschen
In den letzten Jahren wurden einige unimodale Stimulationen im Rahmen von Tinnitus-Studien am Menschen durchgeführt. Herbei wurden neben bescheidenen Erfolgen auch durchaus Verschlechterungen beobachtet. Auch invasive somatosensorische Reize wurden durchgeführt. In dieser Studie wurde ein akustischer Reiz im Bereich des tatsächlich empfundenen Tinnitus und ein somatosensorischer Reiz im Bereich des Kopfes oder Hals, der durch Anspannung oder Manipulation zu einer Verstärkung des Tinnitus führte, ausgewählt.
In einer doppelblinden scheinkontrollierten Crossover-Studie wurden zwei Gruppen mit jeweils 10 Teilnehmern integriert. Zunächst erhielt eine Gruppe die entsprechende Therapie über vier Wochen (30 Minuten täglich), die zweite Gruppe eine Scheintherapie. Wöchentlich wurde eine Verlaufsuntersuchung durchgeführt. Nach einer Pause von vier Wochen tauschten die beiden Gruppen die Therapiestränge.
Tatsächlich gab es eine statistisch signifikante Verringerung der Lautheit des Tinnitus in der jeweiligen Verumgruppe im Vergleich zu Kontrollgruppe. Dieser Effekt nahm jedoch in der anschließenden Auswaschphase rasch ab. Die Aufdringlichkeit des Tinnitus hatte aber bei vielen Probanden auch längerfristig abgenommen.
Meine Einschätzung
Ich fürchte, dass Frau Wagner und Herr Michelsen weiter auf einen Durchbruch warten müssen, auch wenn es positive Zwischenergebnisse gibt. Wissen wir nach dieser Studie wirklich, wo der Entstehungsort des Tinnitus und damit der Anwendungsort der Therapie ist? Einige Fragen bleiben auch nach Auswerten der Veröffentlichung offen.
Die kleinen Gruppen können vielleicht im Zwischenergebnis statistisch signifikante Ergebnisse liefern. Ob sich diese Zahlen in größeren klinischen Studien bestätigen, bleibt anzuwarten.
Immerhin wäre die bimodale auditorisch-somatosensorische Stimulation keine invasive und somit eine durchaus alltagstaugliche Therapie, von der wir bei weiteren positiven Ergebnissen gerne mehr lesen möchten.
Quellen:
Auditory-somatosensory bimodal stimulation desynchronizes brain circuitry to reduce tinnitus in guinea pigs and humans KC Schwartz-Leysac et al.; Science Translational Medicine, doi: 10.1126/scitranslmed.aal3175; 2018
Cerebellum-like structures and their implications for cerebellar function Nathaniel Sawtell et al.; Annual Review of Neuroscience, doi: 10.1146/annurev.neuro.30.051606.094225; 2008
Somatic (craniocervical) tinnitus and the dorsal cochlear nucleus hypothesis Rober Aaron Levine; American Journal of Otolaryngology, 1999