Bislang tut sich die Digitalisierung in vielen Bereichen der Medizin schwer. Eines der Stiefkinder auf dem Gebiet ist die Telemedizin. Dies soll sich zukünftig ändern: Angeblich will die Bundesärztekammer das bisher hart verteidigte Fernbehandlungsverbot lockern.
Wie der „Spiegel“ jetzt aus internen Unterlagen erfahren hat, plant die Bundesärztekammer (BÄK), ihr Fernbehandlungssverbot zu lockern. Als neue Formulierung schlagen Standesvertreter vor: „Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über elektronische Kommunikationsmedien ist erlaubt, wenn dies im Einzelfall ärztlich vertretbar ist.“
Ärzte werden in die Pflicht genommen, Patienten aufzuklären und telemedizinische Sprechstunden akribisch zu dokumentieren. Wie es zum Paradigmenwechsel kam, ist unklar. Vielleicht liegt es am zunehmenden Ärztemangel in ländlichen Regionen, vielleicht aber auch am Druck junger Kollegen.
Über Jahre hinweg hatten Vertreter der Ärzteschaft am reinen Fernbehandlungsverbot festgehalten. Sie berufen sich auf ihre (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte. In § 7 (Behandlungsgrundsätze und Verhaltensregeln) heißt es etwa: „Ärztinnen und Ärzte dürfen individuelle ärztliche Behandlung, insbesondere auch Beratung, nicht ausschließlich über Print- und Kommunikationsmedien durchführen. Auch bei telemedizinischen Verfahren ist zu gewährleisten, dass eine Ärztin oder ein Arzt die Patientin oder den Patienten unmittelbar behandelt.“ Nicht allen Medizinern gefiel die restriktive Haltung.
Das zeigen aktuelle Zahlen aus dem DAK-Digitalisierungsreport. Die Krankenkasse hatte zusammen mit mehreren Partnern 1.147 Mediziner im gesamten Bundesgebiet befragt. Rund 80 Prozent halten Videosprechstunden und Online-Coachings für nützliche Ansätze. Vor allem jüngere Kollegen zeigten sich offen. Dabei gibt es noch eklatante Wissensdefizite. Von der elektronischen Patientenakte (ePA) hatte nur jeder zweite Befragte schon gehört.
„Andere Länder Europas sind im Bereich E-Health bereits viel weiter als wir“, kommentiert Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. „Wenn wir nicht handeln, droht Deutschland zum digitalen Entwicklungsland zu werden.“ Storm geht es nicht nur um Innovationen, sondern auch um Maßnahmen gegen Versorgungsengpässe in ländlichen Regionen. Vielleicht sieht das die BÄK ja ähnlich.
Storms Kritik trifft in der Form nicht auf alle Kammerbezirke zu. Baden-Württembergs Mediziner sind schon lange aufgewacht. Mitte 2016 haben sie ihre Berufsordnung geändert, um die ausschließliche ärztliche Fernbehandlung im Rahmen von Modellprojekten zu ermöglichen.
Arzt und Patient können sich am Telefon oder via Handy-App begegnen, und der Arzt darf eine individuelle Diagnose stellen und die Therapie einleiten. Beide Vorhaben werden wissenschaftlich begleitet, um die Behandlungsqualität zu evaluieren.
Derartige Tests stießen beim Noch-Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) auf Begeisterung. Überraschenderweise begegnete er dem Thema mit unterschiedlichen Ansätzen. Einerseits sollte sein E-Health-Gesetz längst überfällige Anwendungen beschleunigen. Die Telemedizin bezeichnete Gröhe mehrfach als „sinnvolle Anwendung“. Er wünschte sich nur, dass verschiedene Systeme besser vernetzt werden.
Andererseits hat der Christdemokrat mit seinem Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften
Online-Praxen jenseits deutscher Grenzen wie DrEd hinsichtlich ihrer Möglichkeiten eingeschränkt. Die Verantwortung übertrug er auf Apotheker: „Eine Abgabe von Arzneimitteln, die zur Anwendung bei Menschen bestimmt sind, darf nicht erfolgen, wenn vor der ärztlichen oder zahnärztlichen Verschreibung offenkundig kein direkter Kontakt zwischen dem Arzt oder Zahnarzt und der Person, für die das Arzneimittel verschrieben wird, stattgefunden hat (...).“ Deutsche Präsenz- oder Versandapotheken dürfen Rezepte reiner Online-Praxen nicht mehr beliefern. Momentan bleiben als Alternative EU-Versandapotheken jenseits unserer Grenzen. Diese Lücke könnte sich durch das im Koalitionsvertrag paraphierte Rx-Versandverbot vielleicht schon bald schließen.
Entschieden wird am Ärztetag
Jetzt werden die Karten vielleicht neu gemischt. Im Mai haben Delegierte beim Ärztetag das letzte Wort, ob sie ihre (Muster-)Berufsordnung ändern. Sollte das ausschließliche Fernbehandlungsverbot fallen, sind neue Diskussionen über Verordnungen von Online-Praxen zu erwarten.