Ungewißheit bestimmt das Leben vieler Patienten während des gesamten Krankheits-Verlaufs. Gerade in fortgeschrittenen Stadien führt die Nichtbeachtung dieser Erfahrung zu ungünstigen Auswirkungen. COPD-Patienten leiden vor allem unter der Unberechenbarkeit ihrer Symptome.
"Medizin ist die Wissenschaft der Ungewißheit und die Kunst der Wahrscheinlichkeit."
Bereits 1922 legte kein geringerer als William Osler mit diesem Aphorismus einen Grundstein zum "Illness Uncertainty"-Modell.
1988 veröffentlichte Mishel MH einen ersten Entwurf des "Uncertainty in Illness"-Konzeptes. 1990 folgte eine Rekonzeptualisierung.
Bis heute werden Varianten und Erweiterungen publiziert (z. B. McCormick KM, 2002 oder Nanton V et al, 2016).
Im Prinzip basiert das "Illness Uncertainty"-Konzept auf dem Streß-Modell von Lazarus RS und Folkman 2, 1984.
Läßt sich anhand dieses Konzeptes die Ungewißheit bei Patienten mit fortgeschrittenen Erkrankungen (z. B. COPD) analysieren? Dieser Frage widmet sich eine qualitative Studie von Etkind SN et al von 2016.
Studiendesign
Sie untersuchten 30 (von insgesamt 98) Interview-Transkripte, die relevante oder hochrelevante Aussagen zur Ungewißheit bei fortgeschrittener Erkrankung beinhalteten. Der Altersmedian lag bei 75 Jahren (43-95 Jahre). 12 der Interviewten waren Frauen. Die Analyse erfolgte gemäß den Kriterien der COREQ-Leitlinien für qualitative Studien.
Ergebnisse
4 Hauptthemen zum Einfluß der Ungewißheit ließen sich ermitteln:
1. Patientenengagement im Krankheits-Prozeß
2. Zeitlicher Fokus
3. Informationsbedürfnisse und -vorlieben
4. Patientenprioritäten
Im Rahmen dieser Hauptthemen schilderten die Patienten eine Vielzahl von Ungewißheits-Erfahrungen, die sich in mehrere Unterthemen mit hoher Aussagekraft einteilen ließen.
- Unabhängigkeit bewahren (ein Top-Unterthema bei COPD)
- Kontrolle vs Kontrollverlust
- Fokus auf die Gegenwart
- Fokus auf die Zukunft
- Patientenverständnis (Komplexität, Kontinuität der Behandlung)
- Informationspräferenzen (vollständige vs keine Information)
- angemessene Kommunikation
- Lebensqualität
- soziale Faktoren (Pläne, Familie, Teilhabe)
- Konflikte zwischen Patienten- und Behandler-Prioritäten
Aus dem Themen-Cluster ließen sich 3 Patienten-Typologien im Hinblick auf den Umgang mit Ungewißheit ermitteln.
Diskussion
Die Autoren betonen die hohe Übereinstimmung ihrer 4 Hauptthemen mit den Ungewißheits-Kategorien von Mishel MH (Komplexität, Unvorhersehbarkeit, Informationsmangel, Widersprüchlichkeit).
Im Bereich "Widersprüchlichkeit" (ambiguity) führen sie abweichende Ergebnisse auf zwei mögliche Ursachen zurück:
Auch die "Ungewißheits-Typologie" bestätigt bekannte theoretische Positionen. McCormicks Schlüsselaspekt "Zeitlichkeit" (temporality) spielt in der vorliegenden Studie als "Zeitlicher Fokus" eine zentrale Rolle für den Umgang der Patienten mit Ungewißheit.
Implikationen für die Praxis
Die Ergebnisse liefern einen Rahmen für Gespräche zur Entscheidungsfindung (shared decision making) zwischen Behandlern, Patienten mit fortgeschrittenen Erkrankungen und ihren Angehörigen.
Abhängig vom Grad des Patientenengagements und dem zeitlichen Fokus des Patienten können angemessene Informationen für den Entscheidungsprozeß vermittelt werden.
Gemeinsame Entscheidungsprozesse haben in anderen Studien gute Ergebnisse erbracht. Es bleibt jedoch unklar, ob der Weg über eine Steigerung des Patientenengagements oder über einen effektiven Umgang mit dem bestehenden Patientenengagement sinnvoll ist.
Fazit für die Psychopneumologie
Zwei Ergebnisse sind bedeutsam für die Psychopneumologie:
Zukünftig könnte die Psychopneumologie einen zweifachen Dienst erbringen:
Es bleibt viel zu tun!