Bing. Bing. Bing. Bing. Bing. Ein tiefer, fast schon kehliger Ton. Nicht der hektische viel höhere atemlose Notfallalarm. Das kleine Läuten des Alarms ist bis in die letzten Zimmer zu hören. Zumindest für die geübten Ohren. Irgendwas passt nicht: Knick in der Leitung, merkwürdiger Blutdruckwert. Der Alarm ist harmlos, aber bingt ununterbrochen.
Man wird ja mit den Jahren immer geräuschempfindlicher, vor allem, wenn keine offensichtliche Not da ist. Bei zig Monitoren, die in der Notaufnahme stehen, piepst und alarmt es immer irgendwo und allenthalben. Dazu kommt das Schrillen des Telefons, das aus unerfindlichen Gründen nicht leiser gestellt werden kann. Alle reden mit- und durcheinander, schwerhörige Patienten werden laut angesprochen und, und, und …
Bing. Bing. Bing. „Stört dich der Alarm nicht?“, frage ich den jungen Kollegen scheinheilig?
„Aber nein!“, antwortet er artig.
Ich möchte ihn ein bisschen hauen und dazu rufen: „Aber deinen Patienten vielleicht, du Pappnase!“
Mach ich aber nicht. Ich bin meistens ein netter Mensch und da haut man seine Kollegen nicht. Vor allem die nicht, die neu sind und diesen „Ohrenüberhang“ noch nicht haben. Ich drücke den Alarm weg. Der jugendliche Kollege wird ein Referat über Nocebo hören.
Der Patient wird durch den Alarm unruhig
So schön es auch ist, dass der Alarm den Kollegen nicht stört, weil er das Geräusch kennt und einschätzen kann: Der Patient kennt es nicht. Er hört ein permanentes „Bing. Bing. Bing“. Im besten Falle hat der Patient einschlägige Krankenhaus-Serien schon mal geschaut. Im schlimmsten denkt er: „Oh mein Gott. Alarm! Ich bin tatsächlich unfassbar krank. Ach, du liebe Zeit. Die ganze Zeit der Alarm wird ein schlechtes Zeichen sein. Ich fühle mich kränker/schwächer/ blümeranter als je zuvor.“
Der Nocebo-Effekt ist das negative Gegenstück zum Placebo-Effekt, das dürfte bekannt sein. Noch einmal kurz zusammen gefasst: Die Begriffe kommen aus dem Lateinischen. Placebo steht für „Ich werde gefallen“. Dieser Effekt tritt ein, wenn ein Mittel ohne Wirkstoff, also ein Scheinmedikament, Schmerzen lindert.
Beim Nocebo-Effekt ist es genau andersherum. Der Begriff bedeutet „Ich werde schaden“. Beim Nocebo-Effekt handelt es sich um negative Reaktionen des Körpers auf beispielsweise eine medizinische Behandlung – diese kann etwa durch negative Einstellungen, Angst oder frühere negative Erfahrungen hervorgerufen werden.
Nocebo kann viel Schaden anrichten
Da, wo mit Hilfe der Placebo-Effekte Schmerzen gelindert werden können, verschlimmert der Nocebo-Effekt die Beschwerden. Es treten sämtliche Nebenwirkungen eines Medikaments auf und überhaupt passiert allerlei Merkwürdiges. Seele und Geist interagieren mit dem Körper aufs Vortrefflichste. Das, was ich erwarte, tritt ein. Woran ich glaube, passiert.
Prinzipiell geht es bei dem Nocebo-Effekt um eine Reaktion auf ein medizinisches Präparat. Die Pharmafirmen sind aufgrund immer strengerer Sicherheitsbestimmungen verpflichtet, jede Nebenwirkung, die jemals irgendwo aufgetreten ist, im Beipackzettel aufzulisten – und sei sie noch so selten. Wer einmal aufmerksam den Beipackzettel eines gewöhnlichen Schmerzmittels liest, wird vor Angst erstarren. Was man davon alles bekommen kann …
Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit, von einem Blitz erschlagen zu werden, größer als das Risiko durch besagtest Mittel plötzlich Pusteln zu bekommen. Die Hauptaufgabe eines Beipackzettels ist nicht die allumfassende Information des Patienten. Pharmakonzernen geht es in erster Linie darum, mögliche Schadensersatzansprüche zu vermeiden.
Unsere Worte sollten mit Bedacht gewählt sein
Doch Medikamente sind nur das eine. Im Krankenhaus erleben wir oft, wie dieser Nocebo-Effekt losgeht. Wir erleben jeden Tag, dass die Ankündigung einer Behandlung oder Verkündung einer Diagnose unterschiedliche Effekte auf die Patienten haben kann. Das liegt oft auch an unsere Sprache. Oder an nicht ausgeschaltete Monitoren. An Geräuschen aus dem Nebenzimmer. An Geplauder auf dem Flur, bei dem es eigentlich um jemand anderen geht, von dem der Patient aber annimmt, es gehe um ihn. Das Gehörte dichtet er deshalb entsprechend auf sich und seine Beschwerden um.
Das medizinische Personal verwendet häufig eine Sprache, die dem Laien nicht vertraut ist. Der amerikanische Kardiologe und Friedensnobelpreisträger Bernhard Lown hat einmal den schönen Satz geprägt: „Ich kenne nur wenige Heilmittel, die mächtiger sind, als ein sorgsam gewähltes Wort.“
Jedes Wort auf der Goldwage
In Zeiten von Krankheit und Unsicherheit legen Patienten jedes Wort auf die Goldwaage. Nun kann man unter Stress nicht jedes Wort gewienert und geschrubbt sorgsam auf diese Goldwaage lege. Aber man sollte sich bewusst werden, wenigstens ab und zu, was man mit einer unbedachten Ausdrucksweise alles anrichten kann. Mit all diesen täglich sorglos vor sich hingeblubberten Sätze. Hier eine kleine Auswahl:
Wer so spricht, muss sich nicht wundern, dass sensible Zeitgenossen vor Angst schlottern. Wer allerdings erlebt hat, wie Worte auf Patienten wirken können, wird sich bemühen, eine Sprache zu finden, die passend ist. Und glaubt mir: Ich habe es selbst erlebt und mich häufig geschämt – leider meist erst hinterher. Aber das ist der Vorteil: Wer es einmal verkackt hat, wird es beim Nächsten schon viel besser machen.