Bei einigen Erkrankungen oder Verletzungen würde man nicht auf die Idee kommen, ausschließlich Naturheilkunde oder Homöopathie anzuwenden. Eine offene Oberschenkelfraktur wird mit Arnica beispielsweise nicht verheilen. Wo liegen die Grenzen? Ein Beispiel!
Patienten haben unterschiedliche Gründe, sich bei mir mit einem Ordner voller Befunde vorzustellen. Einige sind umgezogen, andere kommen mit dem bisherigen Arzt nicht mehr klar oder möchten eine zweite Meinung und wieder andere versuchen mir zu schmeicheln, indem sie sagen, ich sei einer Empfehlung nach der Spezialist für diese Erkrankung.
Frau Hansen ist eine solche Patientin, Hefter in der Hand und zum ersten Mal bei mir. In der Mappe sind diverse Hörteste, Arztbriefe und Röntgenbefunde der letzten 15 Jahre.
„Mit meinem rechten Ohr wird es immer schlechter, Dr. Fora“, berichtet sie mir. „Und keiner kann mir helfen! Vielleicht haben Sie ja eine Idee.“
„Der letzte Hörtest war vor fünf Jahren. Haben Sie seitdem keinen HNO-Arzt aufgesucht?“, frage ich. Nebenbei blättere ich die Befunde durch. Die Audiogramme sind links stets normal, aber rechts sinken beide Kurven, Luft- und Knochenleitung immer weiter ab. Die Luftleitungskurve aber mehr.
Das kann das Audiogramm
Ein Audiogramm beinhaltet in der Regel zwei Testungen: Mit dem bekannten Schalenkopfhörer wird die gesamte Hörleistung des Ohres gemessen. Die Schallwellen treffen im Gehörgang auf das Trommelfell, setzen dieses in Schwingungen, die dann über die Knöchelchen Hammer, Amboß und Steigbügel auf die Steigbügelfußplatte weitergeleitet werden. Die Fußplatte setzt eine Flüssigkeit in der Schnecke des Innenohres in Schwingung, die dann wiederum über einen faszinierendern Prozess am Ende elektrische Reize auslösen und über den Hörnerv an das Gehirn leiten.
Mit dem Knochenleitungshörer, der hinterm Ohr auf dem Warzenfortsatz platziert wird, misst man die Hörleistung des Innenohres. Die Schallwellen werden über den Knochen direkt an die Schnecke übertragen, also unter Umgehung des Mittelohres mit Trommelfell und Gehörknöchelchen.
Üblicherweise liegen die beiden Kurven direkt nebeneinander. Ob normal hörend oder aus unterschiedlichen Gründen schwerhörig, ist doch das Innenohr der häufigste Ort der Hörstörung.
Immer schlechtere Ergebnisse bei den Hörtests
Aber wenn nun im Mittelohr ein Probelm besteht? Wenn es zum Beispiel ein Loch im Trommelfell gibt, ein Knöchelchen defekt ist oder im Mittelohr eine Ansammlung von zähen Sekret (Erguß) vorliegt. Dann wird der Schall nur noch abgeschwächt an das Innenohr weitergeleitet. Die beiden Hörkurven liegen weit auseinander.
In der Befundmappe meiner Patientin waren einige Hörteste abgeheftet. Zunächst sank nur die Luftleitungskurve geringfügig ab. Also Innenohr gesund, Mittelohr nicht. In den kommenden Jahren sank die Luftleitungskurve immer weiter ab, auf ca. 40 Dezibel. Aber zuletzt war auch die Knochenleitungskurve schlechter geworden. Also eine kombinierte Schwerhörigkeit: Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit.
In den Arztbriefen wurden viele Therapien dokumentiert. Sie hatte Antibiotika, Nasenspray und Schleimlöser genommen. Ein Paukenröhrchen hatte ebensowenig geholfen. Dann war sie einfach nicht mehr zum HNO-Arzt gegangen.
Otosklerose: Nur eine OP kann helfen
Ich setzte Frau Hansen noch einmal zum neuen Hörtest ins Wartezimmer und schaute mir den Verlauf an. Sollte sie etwa …
Das Audiogramm bestätigte meinen Verdacht. Laut Befund hatte sich das Hörvermögen wieder verschlechtert. Beide Hörkurven waren weiter abgefallen und lagen bis auf wenige Frequenzen im Mitteltonbereich noch weiter auseinander, zu sehen war eine sog. Carhart-Senke.
Zudem war der Stimmgabeltest/Rinne-Versuch mittlerweile rechts negativ, Ausdruck einer deutlichen Schallleitungsschwerhörigkeit neben dem Innenohrproblem. Die Stapediusreflexe waren rechts ebenfalls nicht messbar.
Ich hatte also eine Otosklerose vor mir. Eine fortschreitende Verknöcherung und Verkalkung der Kette, Fixierung der Steigbügelfußplatte und Ausdehnung der Verkalkung bis ins Innenohr. Einzige Therapie: Operation. Nur die kann ein Fortschreiten nennenswert aufhalten und in den meisten Fällen zu einer erheblichen Besserung der Schwerhörigkeit führen. Ein Hörgerät kann die Auswirkungen ausgleichen, hat aber keinen Einfluß auf das Fortschreiten der Krankheit.
„Die Heilpraktikerin hilft mir mit Homöopathie“
In den Unterlagen hatten die HNO-Kollegen auch schon bei geringerer Ausprägung an eine Operation gedacht und diese Idee dokumentiert. Ich konfrontierte Frau Hansen mit den Erkenntnissen und meiner Diagnose.
„Das Hören ist im Test deutlich schlechter geworden. Hier, sehen Sie mal im Vergleich zu den Vorbefunden, die Sie mitgebracht haben. Warum waren Sie denn in den letzten Jahren nicht mehr beim Arzt?“, fragte ich meine Patientin.
„Der hat mir eine Operation empfohlen. Sowas möchte ich aber nicht. Ich habe gelesen, dass man davon taub werden kann“, entgegnete sie. „Ich habe dann bei meiner Heilpraktikerin eine homöopathische Therapie begonnen. Das ist ja viel sanfter und mobilisiert die Kräfte des eigenen Körpers.“
Ich blicke noch einmal auf den Hörtest mit einer Schwerhörigkeit, die vor fünt Jahren bei 40 dB lag und jetzt bei über 65 dB liegt. Die Knochenleitung hat sich auch leicht verschlechtert.
Ertaubung durch Nichtstun
„Sie merken doch selbst, Frau Hansen, dass Ihr Ohr immer schlechter wird. An Ihrer Stelle würde ich mich operieren lassen.“
„Aber wenn die Operation schief läuft, kann ich taub werden.“
„Die Wahrscheinlichkeit liegt bei ca. 1–2 Prozent. Diese Zahlen kann man nicht leugnen. Aber wenn Sie sich nicht operieren lassen, werden Sie wohl auch so ertauben. Mit einer Operation haben Sie eine sehr große Chance, dass Sie wieder besser hören können! Was haben Sie zu verlieren?“
„Ach, Sie Ärzte! Sie wollen doch Ihren Kollegen nur decken. Immer gleich operieren. Mit Homöopathie kann man doch nichts falsch machen!“
Doch, kann man. Wenn dadurch eine wirkungsvolle Therapie vermieden wird.