Meine Schicht ist vorbei. Ich habe gekündigt. Nach 21 Jahren in der Pflege breche ich auf zu neuen Ufern. Nicht weil ich verbittert bin, ich bin realistisch. Vielleicht muss der Pflegekarren erst einmal so richtig an die Wand gefahren werden, damit sich etwas ändert.
Mit dem morgigen Tag starte ich in eine neues, aufregendes und hoffnungsvolles Leben jenseits der Mauern der Notaufnahme. Nach knapp 21 Jahren mache ich mich auf. Ich mache mich auf, etwas Neues zu (er)leben, andere Erfahrungen zu sammeln, neue Horizonte zu entdecken und mit meiner Kreativität spielen zu gehen. Ich habe gekündigt.
Irgendwann habe ich auf Twitter mal diesen schönen Tweet gelesen:
Ruhm und Ehre dem Autor: Hier das Orginal, mit freundlicher Genehmigung von @Mountain_lover
Die Antwort auf die Fragen war für mich in vielerlei Hinsicht: Nein! Nicht so. Nicht mehr! Geht mir alle fort! Wer sich wundert über diese harschen Worte, dem seien Hashtags wie #twitternwierueddel oder #Pflegenotstand empfohlen. In meiner Notaufnahme hat sich – gerade in den letzten Monaten – sehr viel verändert. Es wurde und wird strukturell und personell umgebaut, neu sortiert, modernisiert, aufgestockt. Manches ist von der Idee weiter entwickelbar und gut, manches ist einfach Kopf-Tisch.
Vor zehn Jahren hätte ich ob des möglichen Wandels vielleicht begeistert die Ärmel hochgekrempelt. Heute seufze ich angeödet. Schon wenn ich die Worte „personal-/kostenneutral“ oder „Arbeitskreis“ lese, zucken meine Augen nervös.
Erstmal ein Arbeitskreis bilden
Draußen vor der Tür erzählen mir Kollegen von einer 1 : 30 Besetzung auf Station. Die Grippe. Der Wolf. Das Lamm. Hurz! Irgendwas ist immer. Auf die Frage, ob eine Überlastung/Gefährdungsanzeige helfen könnte, winken sie erschöpft ab. „Haben wir schon alles gemacht. Die PDL sagt, woanders ist es auch so!“
Vielleicht muss der Pflegekarren wirklich mal so richtig gegen die Wand gefahren werden, bevor sich was tut. Aber natürlich erst, nachdem ein Arbeitskreis gebildet wurde. Für die Prozessoptimierung und überhaupt. Ist wichtig. Da müssen wir erstmal so ein bis zwei Jahre wöchentlich zusammensitzen und darüber diskutieren, warum um Himmelswillen die Pflege keine Lust mehr auf Pflege hat. Ging doch bisher auch?
Ich will nicht mehr die Mutti für Ärzte sein
Ich will es nicht mehr. Ich will nicht mehr dabei sein, wenn sieben neue Kollegen auf einen Streich angelernt werden müssen. Ich will nicht mehr die Einzige sein, die alles gipsen kann und über die Jahre gelernt hat, die Übersicht zu behalten. Ich will nicht mehr die Mutti für die Ärzte sein. Die Verwaltungsfachangestellte, die sich zum Rapport einfinden muss, weil irgendeine Abrechnung von einem „Nicht EU-Bürger“ falsch aufgenommen wurde. Ich will nicht mehr jemand sein, der „da“ ist – aber eigentlich ist es auch wurscht, ob ich es bin oder jemand anderes: Hauptsache, der Laden läuft und alle haben überlebt.
Liest man all die Tweets und Artikel und Posts, wundert man sich, warum die Kollegen landauf-landab die Zustände in der Pflege hinnehmen. Diese Scheißbedingungen (entschuldigt die Wortwahl, sie war Absicht!). Also gibt es scheinbar doch eine Verpflichtung? Oder ist es die Berufung, von der alle so gerne reden, die einen an den Job nagelt – auf Gedeih und Verderb, aber mit viel Herz? Für viele mag das so sein. Möglich ist aber auch, dass schlicht die Alternativen fehlen – aus mannigfaltigen Gründen. Oder auch der Mut.
Ich brauche eine Veränderung
Für mich stimmt es nicht mehr. Veränderungen sind notwendig. Und so packte ich mein(e) Köfferchen mitsamt den 100.000 Erfahrungen und den vielen Erinnerungen an Schabernack mit meinen Kollegen. Außerdem: Sieben eigenen Kulis und drei Paar Schuhe, Kaffeepads und Notfallgummibärchen, eine Schachtel Zahnstocher (?) und zwei Paar Socken, die mir eine Herzenskollegin schenkte. So zog ich aus meinem Schrank aus.
Ein Karriereziel habe ich zumindest bisher erreicht: Verbitterung liegt mir noch immer fern. Dazu bin ich zu realistisch und glücklicherweise mit Humor gesegnet. Es ist wie es ist – und wie es wohl kommen muss, damit Veränderungen irgendwann endlich stattfinden werden.
Ab jetzt werde ich hoffentlich Senioren glücklich machen. Keine Pflege, aber Hege. Mit Zeit, einem Luxus in unsere Welt. Keine endlose Hetze mehr. Dafür Aktionen, Öffentlichkeitsarbeit, tolle Projekte. All das wartet in meinem Herzen darauf, losgelassen zu werden und auf fruchtbaren Boden zu fallen.
Tschüss Schichtdienst, hallo Elternabend
Kein Wochenenddienst. Keine Nachtschicht. Keine Urlaubspläne, bei denen man um Tage ringen muss. Überhaupt kein aufgezwängter Dienstplan. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie sich das anfühlen mag – nach 30 Jahren im Schichtdienst. Nun werde ich keine Entschuldigungen mehr für Elternabende und Sonstiges haben. Au weia. Gott sei Dank.
Es wird mir so vieles fehlen. Einer der Internisten, der nicht den Status „Ehemaliger Medizinstudent“ hatte (der Kenner wird wissen, wovon hier die Rede ist), kam an meinem letzten Tag zu mir. Er herzte und drückte mich. Er bedankte sich für den Spaß, den wir hatten und für vieles mehr.
„Weißt du, Notaufnahmeschwester, ich hab soviel von dir gelernt. Du warst wie eine Mutter zu mir!“
Sagen wir mal so: Aus der Nummer in der Wäschekammer bin ich dann wohl mittlerweile raus!
Der letzte Gips – für immer
Bei meinem letzten Gips war ich dann doch etwas wehmütig.
„Wissen Sie, das hier ist mein allerletzter Gips im Leben, wenn alles gut geht!“
„Warum?“, fragte der Patient interessiert. „Gehen Sie in Rente?“
Der Wechsel ist also ganz offensichtlich nötig. Ich passe mich wohl schon mal vorab meinem zukünftigen Klientel an, wenn das nicht voller Arbeitseinsatz ist. Und ich weine und lache gleichzeitig.
Wenn ihr mögt: Ich habe noch 100 Geschichten im Kopf, die nur darauf warten, endlich geschrieben zu werden. Schichtdienst sucks. Aber jetzt habe ich ja eine neue Form der Tagesgestaltung. Ihr werdet also auch weiterhin wahre ungeschminkte Geschichten aus der Notaufnahme auf meinem Blog lesen.