Wenn Kinder und Jugendliche unter chronischen Schmerzen leiden, sollten bei Eltern die Alarmglocken schrillen. Eine umfassende Therapie ist unerlässlich. Ärzte müssen hier sehr aufmerksam vorgehen. Ganz besonders sollten sie auf neuropsychologische Besonderheiten achten.
Wer schon in der Jugend mit Schmerzen zu tun hat, wird vermutlich ein Leben lang unter Schmerzen leiden. Wie man chronische Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen behandelt, hängt auch davon ab, mit welchem Blick der Arzt an den Fall herangeht.
Zuallererst ergibt sich die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen Schmerzen und psychischen Erkrankungen. Man könnte natürlich argumentieren, dass Schmerzen vermehrt mit anderen psychiatrischen Störugen wie Depressionen einher gehen. Auch könnte man schlussfolgern, dass Probleme wie Schulausfall oder soziale Ausgrenzung sich auch auf das Lernverhalten und die Neuropsychologie auswirken.
Schmerz verändert die Wahrnehmung
Nach meiner Erfahrung weisen Schmerzpatienten häufig eine besondere Form der Wahrnehmung und Reizverarbeitung und vermehrt negative Life-Events bzw. Traumata in der frühen Kindheit auf. Es scheint wie eine Art emotionaler Overload zu sein, wenn aufgrund dieser Neurodiversität-Besonderheiten negative Erlebnisse auf andere Weise als bei gesunden Menschen verarbeitet werden und sich regelrecht aufschaukeln. Umso wichtiger erscheint es dann, auch einmal aus der Perspektive von Kinder- und Jugendpsychiatern bzw. -Psychologen auf die Symptomatik von chronischen Schmerzen einzugehen.
Eine aktuelle Studie untersuchte dazu 94 Teenager zwischen 10 und 18 Jahren, die wegen chronischer Schmerzen hinsichtlich neuropsychologischer Besonderheiten in Therapie waren. Dabei kam unter anderem heraus, dass fast die Hälfte der Jugendlichen in der ein oder anderen Form unter neuropsychologischen Besonderheiten litt.
Lernstörungen, ADHS, Nonverbale Lernstörung
14 Prozent wiesen Lernstörungen auf, was im Bereich der Erwartungen lag. Sehr viel mehr Klienten wiesen aber Besonderheiten aus dem Autismus-Spektrum, aus dem ADHS-Spektrum oder dem Bereich der Nonverbalen Lernstörungen auf. Dies sind neuropsychologische Entwicklungsbesonderheiten, die speziell im Bereich der höheren Handlungsfunktionen und Reizverarbeitung zu Problemen führen können.
So wiesen 18 Prozent der Jugendlichen eine ADHS-Konstitution auf. Dies ist insofern relevant, weil beispielsweise im Bereich Fibromyalgie bzw. Somatoformer Schmerzstörungen eine entsprechende Komorbidität bei Erwachsenen wiederholt beschrieben ist, selten aber in der Diagnostik und Behandlung berücksichtigt wird.
9 Prozent der Probanden wiesen die diagnostischen Kriterien aus dem Autismus-Spektrum, und sogar 22 Prozent eine Nonverbale Lernstörung auf. Wohlgemerkt, die untersuchten Jugendlichen wiesen eine normale (eher hohe) Intelligenz auf. Aus meiner Sicht sollten (nicht nur) chronische Schmerzpatienten routinemäßig in Hinblick auf Wahrnehmungs- , Lern- und Verhaltensbesonderheiten mit Beginn im Kindesalter untersucht werden. Dazu gehören auch weniger bekannte Problematiken wie beispielsweise die „stillen“ Formen der Aufmerksamkeitsstörungen (z.B. Concentration Deficit Disorder), die sich eher mit Vigilanzbesonderheiten, langsamem Denkstil, früherer Erschöpfung und Müdigkeit bemerkbar machen.
Anderer Blick, andere Medikamente
In der psychosomatischen Rehabilitation ist es nach meiner Erfahrung in der Klinik ausgesprochen schwierig, diese Patienten zu erkennen bzw. die erwähnten Aspekte in die klinische Versorgung mit einzubeziehen. Häufig wurde der Schwerpunkt bei der Definition des Krankheitsmodells bzw. der Vordiagnostik bis dato völlig anders gesetzt.
Ich halte es aber für relevant, bei der Diagnose und Behandlung von chronischen Schmerzen den Aspekt der neuropsychologischen Besonderheiten zu berücksichtigen. Denn dadurch können sich bei der medikamentösen Behandlung völlig andere Ansätze ergeben, ja möglicherweise könnten die bisher verwendeten (meist eher sedierenden bzw. antriebsmindernden) Analgetika- und Neuroleptika-Medikationen die Symptome sogar verschlimmbessern.