Es war Abend, alle Patienten kamen zum Abendbrot und Herr Senner stand am Salatbuffet. Wie immer wollte er nach dem Balsamico-Dressing greifen, doch es war nicht da. Herr Senner wurde innerlich total angespannt und wütend. Er spürte ein massives Beklemmungsgefühl in der Brust.
Essen und Trinken sind wohl in jeder Klinik ein ständiges Thema. Schliesslich geben die gemeinsamen Mahlzeiten eine Struktur. Für uns Therapeuten ist es eine gute Gelegenheit, die kleinen oder großen Belastungssituationen während des Essens als Übungssituationen zu nutzen. Wir schauen, wie Herr Mustermann oder Frau Vorbildlich sich in bestimmten Situationen in der Gemeinschaft oder in einer Konfliktsituation verhalten. Nicht immer mustergültig und nicht immer vorbildlich. Aber gerade ein schlechtes Beispiel kann hilfreich für eine Verhaltensänderung sein.
Im Kern könnte man so was Stressbewältigung nennen. Aber bei manchen Patienten geht es weit darüber hinaus.
Hat schon dies und das versucht
Aktuell ist Herr Senner also in der Klinik. Er ist ein sehr netter Kerl, zweifacher Vater, beruflich gut beisammen. Doch in letzter Zeit kamen Hobbies und Privatleben durch Renovierungsarbeiten in seinem Elternhaus etwas zu kurz. Auf Drängen seiner Ehefrau hat er in den vergangenen Jahren schon dies und das versucht, um ruhiger zu werden. Doch nichts half, so dass er nun zur Behandlung in unsere Klinik kam.
Nach zwei Wochen Sport, Entspannungsverfahren und Ratschlägen aus unserem Therapeutenteam zur kognitiven Umstrukturierung und Neubewertung, Aufmerksamkeitsumlenkung und so weiter, müsste er - bei schönstem Wetter an der Ostsee - doch eigentlich „runter kommen können“.
Doch genau das gelingt ihm nicht. Und ist ihm auch schon in einer vorherigen Psychotherapie, einem achtsamkeitsbasierten Stressbewältigungstraining seiner Krankenkasse, und selbst durch ziemlich viele Neuroleptika (oder vielleicht deswegen) nicht gelungen.
Es geht um das Salatbuffet
Die Verzweifelung ist ihm also bei der Visite ins Gesicht geschrieben. Jede Faser seines Körpers drückt innere Anspannung und Unruhe aus. Exemplarisch schildert er es mir an einem Beispiel: Es geht um das Salatbuffet am Abend. Er bevorzugt ein Balsamico-Dressing. Dieses Dressing gibt es auch ab und zu und manchmal eben nicht. Warum es nur manchmal da ist, könnte man erörtern. Muss man aber nicht. Was er auch einsieht. Was ihn aber am Salatbuffet zur Verzweifelung brachte: Er hatte sich auf Balsamico-Dressing eingestellt, fand dieses nicht vor und wurde innerlich total angespannt und wütend. Er spürte ein massives Beklemmungsgefühl in der Brust. Er spürte Anspannung und Zittern. Er durchblickte die Situation und versuchte durch Verbalisierung und auch mit Progressiver Muskelentspannung – wie ihm wohl ein Therapeut beigebracht hatte – damit klar zu kommen.
Die Schwierigkeit bestand darin, dass ihm die Umstellungsfähigkeit und die Flexibilität fehlten, mit der Situation umzugehen. Eine Situation, die in seinen Augen ein großes Problem darstellte. Die Rejection sensitive dysphoria kann ausgelöst werden, wenn der Patient seine eigenen Erwartungen an sich selbst nicht erfüllt, oder mit (scheinbaren) Niederlagen konfrontiert wird.