Die Besprechung fängt zu spät an. Wir ärgern uns, ein Schuldiger muss her. Warum sorgt der Chefarzt nicht dafür, dass pünktlich begonnen wird? „Der macht mich wütend“, schießt es uns durch den Kopf. Dabei geht es auch anders. So nutzen wir Gefühle zur Vermeidung von Konflikten.
Wenn wir angenehme oder unangenehme Gefühle wahrnehmen, machen wir häufig andere dafür verantwortlich. Das führt manchmal zu kaum lösbaren Konflikten. Aber andere Menschen sind nie für unsere Gefühle verantwortlich. Dafür müssen wir selbst die Verantwortung übernehmen. Wenn wir das tun, können wir viel über uns erfahren.
Geht es Ihnen auch so? Oft habe ich das Gefühl, von Idioten umgeben zu sein. Oder zumindest von Menschen, die es nur darauf anlegen, dass ich mich aufrege. Der Kollege hat den Aufnahmebefund nicht geschrieben. Die Dienste sind nicht eingetragen. Der Patient wurde nicht über die Verlegung informiert und mein Urlaubsantrag ist nicht in der Personalabteilung angekommen. Dann bin ich oft wütend, enttäuscht, ratlos oder traurig. Immerhin gut zu wissen, wer daran schuld ist, dass ich mich so fühle!
Was steckt hinter unseren Gefühlen?
In meinem letzten Blogpost bin ich bereits auf Marshall B. Rosenberg und seine „wertschätzende Kommunikation" eingegangen. Seine Familie jüdischen Ursprungs lebte in den 50er Jahren in einem von Rassenhass geprägten Stadtviertel einer amerikanischen Kleinstadt. Allein wegen seines Nachnamens erfuhr er schon als Kind Anfeindungen und Ausgrenzung.
Er beschäftigte sich fortan damit, wie Konflikte durch unser Denken und unsere Kommunikation entstehen. Er fragte sich, ob eine andere Form des Ausdrucks die eigene Einstellung verändern und Konflikte vermeiden kann. Lange war Rosenberg als Psychotherapeut tätig. Im Umgang mit seinen Patienten vermisste er stets Wertschätzung, Empathie und die therapeutische Beschäftigung mit den Gefühlen und Bedürfnissen, die allem Handeln zugrunde liegen.
Kurz zusammengefasst: Beobachtungen und Bewertungen
In Teil 1 meiner Serie ging es um den ersten Schritt der „wertschätzenden Kommunikation“: die Unterscheidung zwischen Beobachtungen und Bewertungen. Wenn es uns gelingt, Beobachtung und Bewertung zu trennen, verringert sich das Risiko, dass unser Gegenüber Äußerungen als Kritik versteht und Konflikte entstehen (können Sie das? Dieses Quiz verrät es Ihnen).
Diese Trennung ist auch bei vielen psychischen Störungen wichtig. Hier gehört es zur Therapie, den Patienten anzuleiten, zwischen Beobachtung und Bewertung zu unterscheiden. Wie bewertet ein Patient mit Essstörung sein Gewicht oder sein Äußeres? Und obwohl wir um die Wichtigkeit dieses Prinzips wissen, fällt es uns selbst im Alltag oft schwer, nicht direkt zu bewerten.
Im zweiten Teil der Serie soll es nun aber um unsere Gefühle gehen und um die Frage, wer oder was für unsere Gefühle verantwortlich ist. Oft meinen wir, es seien andere dafür verantwortlich, wie wir uns jeweils fühlen. Aber sind es tatsächlich die anderen oder vielmehr die jeweiligen Situationen, die in uns ein Gefühl entstehen lassen?
Die Besprechung fängt mal wieder zu spät an
Schauen wir uns ein Beispiel an. Sie kennen es bestimmt, Sie kommen pünktlich zu einem der vielen Besprechungen Ihrer Abteilung. Kurz bevor es losgehen soll, wird mitgeteilt, dass der Chef noch verhindert sei und die Sitzung ca. 20 Minuten später beginnen wird. Was geht Ihnen durch den Kopf? Welches Gefühl haben Sie in dieser Situation? Überlegen Sie genau, wie Sie sich fühlen würden.
Und nicht nur bei Ihnen löst diese Information ein Gefühl aus. Mit Ihnen warten auch andere Kollegen auf den Beginn der Besprechung.
Vier Kollegen warten auf den Beginn der Besprechung. Für alle ist die Situation gleich: Die Sitzung beginnt später. Und trotzdem löst die Situation bei allen ganz unterschiedliche Gefühle aus. Wie kann das sein?
Eine andere Person oder eine Situation können zwar der Auslöser unserer Gefühle, aber nie die Ursache sein. Gefühle sagen uns etwas darüber, welche Bedürfnisse wir haben und ob sie erfüllt werden oder nicht. Werden unsere Bedürfnisse erfüllt, verspüren wir positive Gefühle. Werden sie nicht erfüllt, empfinden wir negative Gefühle.
Daraus lässt sich ableiten, wie wir am besten an Konfliktsituationen herangehen können. Reagiert ein Patient in einer Situation aufbrausend und aggressiv? Dann können wir uns fragen, welches Bedürfnis dieses Patienten nicht erfüllt wurde? Die wertschätzende Kommunikation geht davon aus, dass das Erahnen und aktive Benennen dieses Bedürfnisses eine Situation deeskalieren kann. Wir könnten beispielsweise fragen: „Sind Sie wütend und aufgebracht, weil Ihnen Autonomie und Selbstbestimmung wichtig sind und aktuell fehlen?“.
Liegen wir mit unserer Vermutung falsch, so können wir problemlos eine zweite Vermutung äußern. Liegen wir richtig, wird sich der Patient verstanden fühlen. Und wenn sich jemand verstanden fühlt, wird schon mal ein wichtiges Bedürfnis erfüllt und seine Wut lässt nach.
Pseudogefühle: „Du machst mich traurig“
Oft machen wir unser Gegenüber für unsere Gefühle verantwortlich, statt dafür selbst die Verantwortung zu übernehmen. Das äußert sich in sogenannten „Pseudogefühlen“, die dem anderen die Verantwortung für unsere Gefühle zuschreiben: „Ich fühle mich hintergangen“ oder „ausgegrenzt“ oder „bevormundet“.
„Du machst mich traurig“ oder „wütend“ oder „glücklich“. Pseudogefühle entfremden uns von der Wahrnehmung unserer eigenen Bedürfnisse. Und wenn wir in den Gefühlsausdrücken unserer Patienten einfach nur ein Symptom ihrer Erkrankung sehen, dann verpassen wir die Chance, uns mit ihren wahren Bedürfnissen zu beschäftigen und zu deren Befriedigung beizutragen.
Unterscheiden lernen: Gefühle oder Pseudogefühle
Achten Sie diese Woche darauf, welche Gefühle Sie empfinden und wie Sie diese benennen würden. Was können diese Gefühle über Ihre erfüllten oder unerfüllten Bedürfnisse aussagen?
In meinem kostenlosen E-Book finden Sie eine Liste mit Gefühlen. Und im unteren Teil dieses Artikels finden Sie eine ausführlichere Liste von Gefühlen und Pseudogefühlen.
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