Eine Operation ist kein Kinderspiel. Weder für Geist noch für Körper. Doch wie erlebt unser Körper solch einen unvorbereiteten Eingriff? Folgen Sie dem kleinen Ery auf seiner Reise! Der erste von fünf Teilen einer bezaubernden Kurzgeschichte, die zu einem kleinen Schmunzeln zwischen all den ernsten Problemberichten führen soll.
Für alle war heute ein ganz normaler Tag wie jeder andere. Jeder ging seiner routinierten Arbeit nach. Doch für so manch eine flache, rote Blutzelle war dieser Tag heute etwas ganz besonderes.
Heute verließen sie ihre Kinderstube, das Knochenmark, und wurden auf die große Reise durch den Blutkreislauf geschickt. So auch der kleine Ery.
„Wow!“, staunte der kleine Ery und sah sich mit großen Augen um, während er rasant durch die dicken, robusten Arterienwände geschleudert wurde.
„Vorsicht! Aus dem Weg!“, riefen plötzlich dunkle Stimmen hinter ihm. Taumelnd versuchte er auszuweichen. Dicke weiße Kugeln mit merkwürdigen Anhängseln rund um ihren Körper steuerten gemeinsam mit einer Horde unaufhörlich mampfender, gefährlich wirkender Zellen an ihm vorbei. Ehrfürchtig sah er dem bunten Trupp hinterher.
„Das sind die Ordnungshüter“, raunte dem kleinen Ery plötzlich ein unförmiger Schwamm zu, „die T-Lymphos und ihr Vortrupp die Makrophagen.“
Staunend nickte der kleine Ery, während er wie von selbst weitertransportiert wurde und den durch Fett beladenen unförmigen Schwamm aufgrund seiner Trägheit zurücklassen musste. Neugierig betrachtete er sich die Wände, die ihn umgaben, die allmählich ihre Form veränderten und ihn nun bläulich schimmernd zu seinem Arbeitsplatz brachten. Schon von weitem konnte er die beeindruckende Zentrale erkennen. Nun war es an der Zeit zu zeigen, wozu er fähig war. Die Theorie hatte er im Kopf. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst und er sammelte all seine Konzentration. Mit einem Ruck als hätte ihn jemand gestoßen wurde er ins rechte Atrium befördert, doch er hatte nicht viel Zeit sich umzusehen, mit einem weiteren Schlag verschlangen ihn drei Segel und er fand sich mit vielen seiner Freunde, die ziemlich ausgelaugt wirkten, in einem größeren Becken. Ein zweiter Schlag und er wurde weiter transportiert an den Ort, an dem nichts schief laufen durfte. Es wurde vieles über die Lungen erzählt, die hier die Oberhand führten. Sie waren nicht sehr beliebt und doch hatte jeder Respekt vor ihnen, denn ohne sie funktionierte es nicht. Sie sollten streng sein und angeblich immer im Stress. Doch nun, als der kleine Ery selbst in einer der Leitungsbahnen feststeckte und brav die Sauerstoff-Moleküle aufsammelte, die ihm die zahllosen Alveolen entgegenhielten, so sah er, wie schwer die beiden Lungenflügel Tag für Tag schuften mussten und er hatte Mitleid mit ihnen. Viel zu schnell, um alles richtig sehen zu können, war die Reise durch die engen Kapillaren bereits vorbei und das linke Atrium umschloss ihn schützend. Diesmal verschlangen ihn nur zwei Segel und in dem stabileren zweiten Becken war die Stimmung bereits ausgelassener. Aufgeregt warteten die frisch mit Sauerstoff beladenen Erythrozyten auf den großen Sprung… dem kleinen Ery wurde schwindelig. Er taumelte und fand sich erst wieder unterhalb des Zwerchfells zurecht, als er in die träge Verdauungspassage abbog. Er hatte die kuriosesten Geschichten über den Strudel der Aorta gehört, doch dass es ihn so aus der Bahn werfen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Hektisch überprüfte er, ob auch ja noch alle vier Sauerstoffmoleküle an ihm hafteten, bevor er sich auf den Weg zu den Organen machte, um sie mit dem lebenswichtigen Element zu versorgen.
Noch 120 Tage hatte er vor sich. 120 Tage, in denen er diesen Zyklus immer und immer wieder wiederholen müsste. Ein stolzes Grinsen flog über sein Gesicht.