Jens Spahn hat große Pläne für die Pflege. Eine Idee nach der anderen präsentiert er so eifrig wie ein kleiner Hund das Stöckchen. „Konzertierte Aktion Pflege“ – was nach einer Militäroperation klingt, soll dem Pflegenotstand in Deutschland ein Ende setzen.
Jens mag für andere Menschen der Herr Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sein, für mich ist er Jens. Ich darf ihn so nennen, eine Hand wäscht die andere. Jens duzt „uns“ ja auch. Die Pflege. Im Kollektiv. Das schweißt zusammen.
Auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums werden wir dazu aufgerufen, ganz besonders beeindruckende Geschichten aus unserem Beruf aufzuschreiben und einzusenden. Dort heißt es: „Klar, es gibt noch viel zu tun für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege – aber es ist ein toller, ein erfüllender Beruf, über den wir sprechen sollten. Welche Erfahrung hat dich besonders berührt? Welches Erlebnis mit pflegebedürftigen oder kranken Menschen hat dich darin bestärkt, den richtigen Beruf ergriffen zu haben?“
Aktive Teilhabe an Verbesserungsvorschlägen. Wie schön. Wie niedlich und volksnah. Wie ermüdend. Wie immerwährend gleich.
Sofortprogramm: Jetzt wird alles besser
Auf Twitter gibt es den Hashtag #twitternwierueddel. Eigentlich steht da schon alles drin: wie gute Pflege aussehen könnte und was das Pflegevolk sich wünscht. Natürlich müsste man da ein wenig zwischen den Zeilen lesen. Aber seis drum, der Hashtag war ja schließlich nicht Spahns Idee. Außerdem strotzen die Inhalte dort vor Zynismus und Sarkasmus. Das zählt nicht, damit kann man nicht arbeiten.
Stattdessen möchte man über Berufung sprechen. Liebe und Gedöns. Und wenn es sein muss, dann kann auch Kritik geübt werden, aber nur ein kleines bisschen. Es haben ja alle mittlerweile verstanden, dass da irgendwas schief läuft im tollsten und erfüllendsten Beruf aller Zeiten.
Und nun also das Sofortprogramm, mit dem Jens Gesundheitsminister Spahn die Pflege stärken will. Zwingen will man die bösen Kliniken, genügend Personal einzustellen. Von Refinanzierung durch Krankenkassen ist die Rede. Großartig, keiner möchte mehr „Sparen zu Lasten der Pflege“. Endlich kommen die Fachpersonen zusammen, die das sinkende Pflegeschiff in den sicheren, gutbezahlten Klinik- und Seniorenhafen einfahren. Ganz im Sinne Friedrich Schillers scheint Spahn zu fordern: „So nehmt auch mich zum Genossen an: Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der dritte“.
Viele weise Worte
Die Bundesfamilienmisterin Dr. Franziska Giffey äußert sich sehr ernsthaft: „Ab heute gehen wir gemeinsam gegen den Pflegenotstand vor. Das geht nur mit mehr Pflegerinnen und Pflegern. Wir wollen mehr Menschen für den Pflegeberuf begeistern und dazu die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen verbessern. Pflegen nach der Stoppuhr muss ein Ende haben. Gute Pflege braucht Zeit, um für Menschen da sein zu können. Die Pflegekräfte leisten viel, sie haben höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und Entlastung im Alltag mehr als verdient.“
Und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil bekräftigt das Ganze mit den Worten: „Bei guter Pflege dreht sich alles um Menschen. Gute Pflegekräfte sind mehr als bloße Versorger. Darum werben wir dafür, dass es künftig deutlich mehr Frauen und Männer in Deutschland gibt, die sich um Pflegebedürftige kümmern. Wir wollen mit unserer Konzertierten Aktion den Pflegenden und den Pflegebedürftigen endlich die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die ihnen zusteht. Dazu ist es nötig, in dem Bereich mehr Tarifbindung zu schaffen, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.“
Also wer bei so viel Fürsorge nicht in die Pflege kommen mag, ist selbst Schuld. Alle kümmern sich.
Ohne Schulabschluss in die Pflege
Aber wehe dem, der genauer nachfragt. „Ausbildung attraktiver“ machen bedeutet nicht, dass man die Pflege akademisiert. Gott bewahre! Nein, nein, jeder kann pflegen. In Zukunft vielleicht auch der unfreiwillige Freiwillige. Und in der Altenpflege stufen wir mal ganz nebenbei die Anforderungen herunter. So las ich mit Erstaunen: „In einem neuen Modellprojekt will der hessische Landtag die Ausbildung zum Altenpflegehelfer zugangsfrei machen.“ War zuvor noch mindestens ein Hauptschulabschluss von Nöten, möchte man mit diesem Ansatz nun der Personalnot in den hessischen Altenpflegeeinrichtungen begegnen.
Der Hauptschulabschluss soll dann einfach ausbildungsbegleitend nachgeholt werden. Ein gutes Herz und im Zweifel auch ein Dankeschön der dankbaren Heimbewohner ist doch sowieso mehr Wert als ein Schulabschluss. Das reicht. Muss reichen. Den Rest erledigt das Fachpersonal – ach Moment, das wird ja erst noch aufgestockt. Von wem auch immer.
Zu erschöpft für Politik
Die kümmerliche Anzahl von übrig gebliebenem Fachpersonal, das in der Pflege arbeitet, ist meist eh zu erschöpft, um sich um Politik zu kümmern. Oder empfindet die Flut von immer noch besseren, schöneren, teureren Maßnahmen, die der künftigen Wählerschaft versprochen werden, schlicht als ermüdend.
Und weil die Pfleger so erschöpft sind, werden sie auch nicht zu politischen Diskussionen eingeladen, schätze ich mal. Da kommen dann eher ehemalige Schauspieler zu Wort, die Mutti mal locker nebenbei und mit ganz viel Herz (schon wieder) gepflegt haben. Oder Auszubildende. Oder Heimbetreiber. Aber fast niemand, der an der Basis arbeitet und wirklich weiß, wovon er spricht. Gesprächsangebote von Pflegepersonen gibt es bei Twitter jedenfalls genug.
„Wir haben verstanden!“, sagt Jens trotzdem voller Stolz. Die Digitalisierung soll vorangetrieben, Mindest- oder Untergrenzen definiert werden, Löhne sollen angeglichen oder überhaupt tariflich vereinbart und Fachkräfte aus dem Ausland rekrutiert werden. Die „Drei im Bunde“ haben sich viel vorgenommen.
Reformvorschläge: Lauter alte Hüte
Müßig zu fragen: Warum erst jetzt? Und warum mit Ideen, die in den letzten Jahren immer wieder wie der Klappkasper aus der Springbox gehüpft sind. Jedes Mal wurden diese Ideen entweder wieder verworfen, haben sich im Sande verlaufen oder einfach nicht den gewünschten Erfolg erbracht. Oder waren zu teuer. Oder sind irgendeiner Lobby auf den Schlips getreten.
Aber jetzt wird ja alles anders. Endlich. Die Frage ist halt nur, wie sie das alles umsetzen wollen. Jetzt, wo offensichtlich keiner mehr in den Beruf will. Es scheint sich bis in den letzten Winkel herumgesprochen zu haben, dass Pflege zwar erfüllend sein kann, aber auch körperliche, geistige und seelische Höchstleistung bedeutet für ein – gemessen an der Verantwortung – doch eher mickeriges Gehalt. Dazu Schichtdienst, ungünstige Dienstplangestaltung und die ständige Auseinandersetzung mit einer Bevölkerung, die von Problemen in der Pflege so lange genervt ist, bis sie selbst daniederliegt, um dann mit der Schreibmaschine im Bett zu sitzen und Beschwerdebriefe zu tippen.
Jens Spahn und seine „Genossen“ müssen etwas schaffen. Die Pflegelandschaft liegt jetzt schon am Boden. Wahlen stehen irgendwann wieder an (lockt da etwa die Kanzlerschaft?), es gibt viel zu tun. Man hat sein Herz entdeckt. Für alle.
Wir erinnern uns an den „alten“ Jens
Jens, der vor allem dadurch auffiel, dass er mal alles herausplapperte, was irgendwie von Belang war, sein könnte oder werden wird. So sagte er beispielsweise, dass Hartz 4 nicht gleich Armut bedeute und dass Frauen Abtreibungspillen wie bunte Smarties schlucken würden. Dann waren da noch Genderdebatten, jugendliche Komasäufer, Legalisierung von Marihuana. Zu allem hatte er eine Meinung, die vor allem durch eins gekennzeichnet war: Mitgefühl. Oder vielmehr fehlendes Mitgefühl.
Aber jetzt hat er eine Wandlung vom Saulus zum Paulus hingelegt. Denn die Empörung war zuvor zu groß. „Zu groß für Spahns weitere Karrierepläne. Ende April besuchte er öffentlichkeitswirksam eine Hartz-IV-Empfängerin und aß mit ihr Kuchen. Er merkte, dass das Image der sozialen Kälte sehr schädlich sein kann für einen Mann, dessen Karrierepläne nach wie vor ins Kanzleramt führen“, wie die FAZ schreibt. Ihm sollen wir jetzt also glauben. Jens meint es nun gut mit uns und tut alles für die Menschen.
Wurde wirklich etwas verstanden?
Ich würde mich gerne überraschen lassen, würde gerne merken, dass alles besser werden wird. Aber ich bezweifle es. Weil alle Vorschläge des Sofortprogramms schon in der Vergangenheit abgearbeitet wurden und zu keinem wirklichen Erfolg geführt haben. Weil hier viel Bekanntes nun im neuen Gewand daherkommt. Weil ich keinen wirklichen Wandel im Bezug auf das grundlegende Problem sehe. Reförmchen von Reformen werden das Ruder nicht herumreißen, auch wenn man es uns glauben lassen möchte. Grundlegendes sehe ich nicht: Keine Bürgerversicherung, keine „Gewinnbremse“ für Altenheimbetreiber und keine Anpassung der Gehälter von examinierten Altenpflegern und GuK-Pflegern. Die Liste ließe sich mühelos und endlos fortsetzen.
Eines darf man nicht vergessen: Politik fängt immer unten an. Ein Arbeitgeber, die Stationsleitung oder Wohnbereichsleitung kann sich gut um sein Personal kümmern oder es als durchlaufenden Faktor betrachten. Hier fängt ein „Wir haben verstanden“ an. Beginnen sollten wir bei jenen, die ein Interesse haben müssen, gutes Personal zu rekrutieren, es fair zu behandeln und angemessen zu bezahlen. Denn nichts spricht sich schneller herum, als ein Arbeitgeber, der dies nicht tut. Dann kann auch die „große Politik“ nicht mehr eingreifen mit ihren Neuerungen. Denn dann wird es möglicherweise keinen mehr geben, der in Zukunft in diesem „tollen und erfüllenden Beruf“ arbeiten möchte.