Die heutige Visite wird ganz sicher ein Horrortrip. Der Chefarzt ist dabei und der Sozialdienst war länger krank. Viele Patienten bewegen sich gefährlich nah an der oberen Grenzverweildauer, einige haben sie längst überschritten. Bis Zimmer 6 hält der Chef es aus, dann brüllt er mich an.
Der Chefarzt begleitet heute Mittag die Visite. Vor jedem Zimmer bekommt er ein kurzes Briefing von mir, damit er weiß, welcher Patient sich im jeweiligen Zimmer befindet. Wir werden von einer größeren Gruppe begleitet. Sozialdienst, Physiotherapie, weitere Assistenzärzte, PJler, Bettenmanagement.
Sollten sich Fragen ergeben, weiß jeder sofort die richtige Antwort. Ich bin für die Fragen zum medizinischen Hintergrund zuständig, der Sozialdienst für Fragen zu Hilfsmittel oder Kurzzeitpflege, die Physiotherapie kümmert sich um die Beweglichkeit und das Bettenmangement und um die Verweildauer.
Der Chef braucht heute starke Nerven
Die Visite wird ein Horrortrip der Extraklasse werden. Der Sozialdienst war krank und es gab keine Vertretung. Alle Patienten, die nicht über Angehörige versorgt werden und eine veränderte Pflege brauchen, wurden nicht zeitgerecht versorgt. Ich stelle mich schon mal auf Wutausbrüche ein.
Spätestens in Zimmer 5 wird unser Chef auf dem Flur ausflippen. Denn in Zimmer 1 hat die Patientin ihren Termin für die Reha zwei Tage zu spät vereinbart. In Zimmer 3 bekommen wir erst in 4 Tagen einen Platz in der Kurzzeitpflege und in Zimmer 5 sprengen wir jegliche obere Grenzverweildauer. Vergessen habe ich die Patientin in Zimmer 2, die mit ihrer Entlassung gegen ärztlichen Rat auch noch die untere Grenzverweildauer unterschreitet.
Und dann kommt der Wutausbruch
Er schafft es bis Zimmer 6. Dann platzt die Bombe. Ein Schauspiel des modernen Bluthochdrucks.
„Frau Dr. Müller. Die Patientin eben hat noch einen Tag! Einen Tag, um die Grenzverweildauer nicht zu überschreiten! Warum denkt sie dann, dass sie noch bis Ende der Woche bleibt? Sie geht! Und zwar morgen! Es interessiert mich nicht, dass der Platz im betreuten Wohnen nicht frei ist. Sie geht. Raus. Weg. Sonst gebe ich Ihnen einen Tag – einen Tag, an dem Sie entscheiden müssen, welcher ihrer Kollegen gehen muss, wenn Sie es nicht selbst sein wollen. Was denken Sie denn, wie ich diese Abteilung führen soll? So nicht!“
Danach schafft er es noch bis Zimmer 15. Dann bricht er die Visite ab. Die Zahlen verursachen ihm deutlich sichtbare Schmerzen.
Am Folgetag steht die Dame vom Bettenmanagement mit einem Gruß vom Chef vor mir. Sie übergibt mir die ohnehin schon erwartete tägliche Liste der Verweildauern. Untere, mittlere und obere Grenze. Die Verweildauer der Patienten wird ihnen nämlich noch nicht am Aufnahmetag auf die Stirn tätowiert. Neu ist allerdings ein neonpink markiertes Datum bei einigen Patienten. Da steht ab sofort: „NOCH 1 Tag!“