Fast jeder zweite Medizinstudent entwickelt depressive Symptome. Was tun? Eine bessere Auswahl treffen. Wirklich? Wir als Ärzte müssen den jungen Kollegen beibringen, mit Belastungen umzugehen. Stattdessen vermitteln wir ihnen, Gefühlsregungen würden sie für den Arztberuf disqualifizieren.
Ich habe vor kurzem einen Artikel im Ärzteblatt gelesen, der mich seitdem nicht mehr wirklich loslässt. Der Absatz, der mich so irritiert hat, ist folgender:
„Tatsache ist jedoch: Bereits bei Medizinstudierenden tritt eine starke psychische Belastung mit häufig schwerwiegenden Auswirkungen auf. Über 40 Prozent der Studierenden entwickeln bereits vor dem ersten Staatsexamen depressive Symptome, eine fast genauso hohe Zahl leidet nach dem Abschluss unter manifesten Depressionen, Angst- und Abhängigkeitserkrankungen. Diese besorgniserregenden Prävalenzen gelten international und heben den dringenden Handlungsbedarf von Beginn des Medizinstudiums an hervor. Insgesamt haben Ärztinnen und Ärzte die höchsten Selbstmordraten unter sämtlichen Berufsgruppen.“
Mit besserer Auswahl gegen „emotionale Schwäche“?
Ich selbst arbeite mittlerweile in einer hausärztlichen Praxis, ich kann mich aber noch gut an die stressigen Zeiten im Studium und in der Klinik erinnern. Und trotzdem erschrecken mich diese Zahlen. Man muss sich das mal vorstellen: Knapp 40 Prozent der Medizinstudenten haben am Ende des Medizinstudiums eine ernsthafte psychische Erkrankung, die, je nach Ausprägung der Erkrankung, ihre Arbeitsfähigkeit, sie selbst und im Endeffekt auch die Patienten bedroht.
Dazu passende Ergebnisse liefern Wissenschaftler aus den USA: In einer Studie beschäftigen sie sich mit der Tatsache, dass die Burnout-Rate bei Medizinern innerhalb von drei Jahren von 45,5 Prozent auf 54,4 Prozent gestiegen ist (2011–2014). Ein besorgniserregender Trend, der im Studium beginnt und sich im Berufsleben manifestiert.
Die Autoren des Artikels im Ärzteblatt haben eine Antwort. Sie kommen zu dem Fazit, dass die Auswahl der prospektiven Ärzte sich verbessern muss und dafür entsprechende Auswahlkriterien gefunden werden müssen. Ich glaube, dass die Autoren vielleicht nur gute Absichten haben und das Problem der Burnout-Epidemie angehen wollen. Sicherlich entspricht die Vorstellung des „geborenen Arztes“ auch dem Zeitgeist. Leider kommt das Fazit für mich aber daher, als wolle man sagen „Ist das Studium zu hart, bist du zu schwach!“ und damit einhergehend ist man dann auch für den Arztberuf zu labil.
Warum ich diese Einstellung problematisch finde
Ich habe mit dieser Einstellung so meine Probleme. Ich glaube, dass dabei der Fokus zu sehr auf die Defizite des Einzelnen gelegt wird. Die Arbeitsbedingungen auf der einen Seite und der unter Ärzten gepflegten Umgang mit Krisen und Problemen leisten ihren Beitrag zum Auftreten psychischer Erkrankungen.
Dabei möchte ich in diesem Artikel nicht primär auf die formalen Arbeitsbedingungen wie Schreibarbeit, Schichtdienst, Arbeitszeiten eingehen. Das ist ein eigener und sicherlich riesiger Themabereich, der sehr regelmäßig diskutiert wird.
Mir geht es um den zweiten Aspekt: Die meines Erachtens nach abwegige Idee, dass man das Problem der „Burnout-Epidemie“ durch die richtigen „Auswahl“ lösen könne. Durch diese Einstellung entsteht eine problematische Atmosphäre in Kliniken.
Meine Zeit in der Klinik
Deswegen möchte ich meine eigenen Erfahrungen aus der Klinikzeit schildern. Ich habe in meiner Klinikzeit in zwei Krankenhäusern gearbeitet, in einer Uniklinik und einem größeren Krankenhaus in der Unistadt. Die Abteilung, in der ich an der Uniklinik gearbeitet habe, unterschied sich in der Größe nicht sehr von der anderen Klinik, in der Atmosphäre aber sehr.
An der Uniklinik galt, dass es eine Frage der eigenen Stärke sei, ob man mit dem Druck klarkomme. Gelang das nicht, war dies der Fehler des Arztes selbst. Dementsprechend schwierig war es, sich unter den ebenfalls erschöpften Kollegen Hilfe zu holen: „Ich hab keine Zeit, dir zu helfen! Warum hängst du dich da überhaupt so rein? Die hat doch eh ‘nen Tumor … “.
Auch die Oberärzte hatten selbst kaum Zeit, die Jung-Ärzte in Ruhe einzuarbeiten und ihnen praktische Konzepte für die häufigsten Krankheitsbilder an die Hand zu geben. Es wurde einfach erwartet, dass „ der richtige Arzt“ diese Konzepte parat hat.
Das Team war entsprechend jung, weil andauernd Leute die Abteilung verließen – die meisten danach so verunsichert, dass sie entweder die Fachrichtung gewechselt haben, sehr weit weg an ein möglichst kleines Haus gegangen sind oder auch nicht selten überhaupt gar nicht mehr als Arzt mit Patienten gearbeitet haben.
Der rettende Wechsel
Mir ging es nicht anders. Ich war nach kurzer Zeit völlig verunsichert, weinte oft zu Hause, es kam zu Streitigkeiten mit meinem Partner und ich hatte das Gefühl, dass ich auch beruflich nichts mehr schaffte, obwohl ich 11–12 Stunden täglich in der Klinik war.
Zu meinem Glück hatte ich bereits noch in der Probezeit die Möglichkeit, an eine andere große Klinik in derselben Stadt zu wechseln. Das führte zwar zu einem gewissen Spießrutenlauf für die Dauer vom Einreichen der Kündigung bis zum letzten Arbeitstag (und auch zu wenig freundlichen Blicken im Rahmen der lokalen Fortbildungsveranstaltungen in den nächsten Jahren), war für mich aber auch im Nachhinein der richtige Schritt.
In der neuen Klinik, die ich bereits aus dem PJ kannte, bei der aber keine Stelle frei war, als ich mich nach dem Staatsexamen beworben hatte, war die Atmosphäre ganz anders. Es gab viele Alt-Assistenten, die einem halfen, wenn es Unsicherheiten gab.
Reger Austausch in Klinik Nr. 2
Auch der Oberarzt kam morgens und abends vorbei, um Fragen zu besprechen und Konzepte zu erarbeiten. Dabei ging es nicht nur um technisch/fachliche Fragen. Auch wenn es jemandem emotional nicht gut ging, wurde das offen angesprochen. Und es wurde auch kein Geheimnis draus gemacht, dass so ziemlich jeder mal nach einem Dienst geheult hatte. Es gibt eben üble Dienste, emotional total verfahrene Situationen und da kommen einem nach dem Dienst manchmal die Tränen – mal aus Trauer, mal aus Erschöpfung, manchmal weiß man nicht, warum, man ist einfach nur fertig.
Man bekam durchaus Manöverkritik, aber auch positive Rückkopplung. Außerdem wurden auch die Fälle besprochen, in denen man aufgrund des fulminanten Krankheitsverlaufs einfach nichts machen konnte. Ein Fall drohte beispielsweise einen gerade frisch gebackenen Facharzt zu traumatisieren. Er hatte einen ca. 40-jährigen Patienten mit pneumogener Sepsis bei bislang ambulant unerkannter B-Zell-Leukämie nicht retten konnte, obwohl er alles versucht hatte.
Irgendwann muss jeder einmal weinen
Selbst mit den Studenten wurde das Thema psychische Belastung immer mal wieder angesprochen. Auch ich habe es immer wieder thematisiert und erinnere mich an ein Mal, als eine Studentin richtig sauer wurde, weil ich sagte, dass so ziemlich jeder Arzt nach dem Dienst mal weine, dass das völlig normal sei und einen nicht als Arzt disqualifiziere. Überzeugen konnte ich sie nicht, sie war der felsenfesten Überzeugung, dass man „als richtiger Arzt nicht heult“.
Ein paar Wochen später kam die besagte Studentin zurück auf unsere Station, um sich zu bedanken. Auf meine Frage, wofür sie sich denn bedanken wolle, erklärte sie mir, dass sie vor kurzem einen sehr heftigen Dienst als Pjlerin hatte. Als sie mit Tränen in den Augen nach Hause fuhr, fiel ihr unsere Diskussion wieder ein und sie war sehr dankbar dafür, dass man ihr vorher erklärt hatte, dass diese Situation früher oder später bei jedem mal auftrete und sie das nicht als Ärztin disqualifiziere.
Umgang mit Krisen muss man lernen
Interessanterweise fällt mir kein Kollege aus diesem Krankenhaus ein, der nicht mit Patienten weitergearbeitet hätte. Diejenigen, die nach einiger Zeit dann doch aus der Klinik gingen, gingen größtenteils in eine Praxis, manche blieben auch nach dem Facharzt noch für ein paar Jahre. Es gab durchaus auch Kollegen, die über kurz oder lang merkten, dass das Arbeitstempo im Krankenhaus ihnen zu hoch war. Aber deswegen wurde nicht gleich die eigene Qualifikation in Frage gestellt, sondern eher überlegt, wo man als Arzt stattdessen arbeiten könnte.
Deswegen mein persönliches Fazit aus diesen Erfahrungen: Natürlich ist der ärztliche Beruf gerade in einigen Fachbereichen so anstrengend, dass nicht jeder das auf Dauer machen will oder kann. Und es gibt auch ein Zuviel, bei dem die Schwelle zum Burnout/Erschöpfungsdepression überschritten wird, dann liegt eine behandlungsbedürftige Erkrankung vor.
Aber wenn ich jemandem direkt bei der ersten Krise erzähle, er sei einfach nicht dazu gemacht, Arzt zu sein, kann er auch an diesen Krisen nicht wachsen und nicht daraus lernen, sondern wird schlimmstenfalls diese Einschätzung übernehmen und vielleicht überhaupt nicht als Arzt arbeiten.
Übung macht den Meister
Und für diejenigen, die jetzt über Kosten nachdenken: Wenn 40 Prozent der Jung-Ärzte, die für je 200.000–250.000 Euro ausgebildeten wurden, eine psychische Erkrankung haben, die ja bekanntermaßen häufig die Erwerbstätigkeit gefährdet, wird es sich höchstwahrscheinlich deutlich schneller rechnen, diese Quote zu verringern, als 10 Prozent mehr Studienplätze zu schaffen.
Das Arztsein hat meiner Meinung nach viel mit Übung zu tun. Nicht nur mit theoretischem Wissen und praktischen Fertigkeiten wie Blutabnehmen, sondern auch mit der psychischen Seite, der Umgang mit emotionaler Belastung, Verantwortung und Stress muss erlernt werden. Leider übt man diese Seite meist nicht im Studium, obwohl es für die dauerhafte Tätigkeit als Arzt eine extrem wichtige Eigenschaft ist. Niemand ist „als Arzt geboren“ und wir alle mussten uns erstmal in das Arztsein einfinden. Dafür braucht man aber Zeit und auch kollegiale Unterstützung.
Deswegen würde ich folgendes vorschlagen:
Kurzum: Lasst die Leute in ihren Krisen nicht allein nach dem Motto „Du bist zu schwach“ sondern gebt ihnen die Möglichkeit, in den Beruf hineinzuwachsen – so, wie wir alle mal reingewachsen sind.