Mehr als 20 Jahre war die Suche erfolglos. Erst jetzt sind kanadische Forscher wieder Genen auf die Spur gekommen, die das Risiko von MS deutlich erhöhen. Eine bestimmte Gen-Mutation führte bei 70 % der Träger zu MS. Allerdings müssen noch andere Faktoren hinzukommen.
Ist das der riesengroße Durchbruch? Diese hoffnungsvolle Frage stellten sich kürzlich viele Neurologen. Denn es tauchten zahlreiche Berichte auf, wonach eine DNA-Mutation gefunden worden sei, welche mit einer 70-prozentigen Wahrscheinlichkeit zu Multipler Sklerose führt. Manche sprachen sogar davon, man habe das MS-Gen identifiziert. Diese Neuigkeiten machten Forschern und Betroffenen Mut. Denn Neurologen befinden sich bei der Erforschung der MS und ihrer Ursache in einer ähnlichen Situation, wie wenn jemand tatsächlich die Nadel im Heuhaufen sucht. Wobei die Chancen, die Nadel zu finden, wohl größer sind, als die Ursachen dieser multifaktoriellen Krankheit zu entschlüsseln. So verschiedenartig wie die Krankheitsursachen, stellen sich nämlich auch die Erscheinungsformen der MS dar.
Eine schubförmige Symptomatik kann dabei ebenso auftreten wie eine schleichende irreversible Zerstörung der Nervenfunktionen. Die genetische Prädisposition, welche das Entstehen der Krankheit begünstigt, ist ebenso wie die unterschiedlichen förderlichen Umweltfaktoren Gegenstand zahlreicher Studien weltweit. Das MS-Gen wurde dabei aber bisher noch nicht gefunden, auch wenn man schon ein paar Stellen im DNA-Kabel, die die Entstehung der Erkrankung begünstigen können, kennt. Dass aber durch Mutation einer einzigen Aminosäure die Wahrscheinlichkeit an MS zu erkranken auf 70% steigt, wie in der kürzlich veröffentlichten Studie, wurde bisher noch nicht beschrieben. Kanadische Wissenschaftler der Universität von Britisch Columbia unter der Leitung von PD Dr. Carles Vilarino-Güell wollen nun Mutationen im NR1H3 Gen gefunden haben, welche stärker als Mutationen anderer Gene mit dem Entstehen von MS assoziiert sind. NR1H3 kodiert für den liver X receptor alpha (LXRA). Dem aktivierten Rezeptor nachfolgend werden spezifische Faktoren aktiviert, welche zum einen den Metabolismus von Cholesterol regulieren und zum anderen immunsupprimierende Eigenschaften aufweisen.
Cholestrol hat als Membranbaustein eine wichtige Funktion für die Stabilität von Zelloberflächen und ist beteiligt an der Neurotransmitterausschüttung im ZNS. Zudem ist Cholesterol essentiell für den Prozess der Myelinisierung. Ist die NR1H3 Mutation vorhanden, führt dies laut der aktuellen Studie dazu, dass kein funktioneller LXRA mehr gebildet wird und die nachfolgende intrazelluläre Signalweiterleitung nicht mehr stattfindet. Der genetische Kurzschluss führt also zum Abbruch der Cholesterolsynthese und damit verbunden zu Störungen im Myelinschichtaufbau und dem Neurotransmitterstrom.
Alles zusammen wirkt sich förderlich auf das Entstehen der MS aus. Beim Durchkämmen einer MS Datenbank entdeckte die kanadische Forschergruppe den seltenen Fall, dass innerhalb einer Familie gehäuft Fälle von MS auftraten. Es handelt sich dabei um die primär progressive Form der neurodegenerativen Erkrankung (PPMS). Diese findet man bei etwa 10-15% der MS-Patienten. Genanalysen betroffener und gesunder Familienmitglieder offenbarten, dass einige Verwandte dieselbe Mutation im NR1H3 Gen tragen. Anschließende Datenbankanalysen identifizierten diese Genveränderung auch bei einer weiteren Familie mit mehreren betroffenen Personen. Auch wenn nicht alle Träger der genetischen Variante (sondern die eingangs erwähnten 70%) an MS erkrankt sind, sprechen die Autoren von gemeinsamer Vererbung der Mutation und dem Auftreten von MS. Auch für eine weitere Mutation im selben Gen berechneten die kanadischen Wissenschaftler einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Genvariante und der Entwicklung einer PPMS. Eine PPMS tritt jedoch eher selten auf. Die Autoren selbst schätzen, dass einer von 1.000 MS-Patienten eine durch die Mutation bedingte Pathogenese aufweist. Deshalb kann man in beiden Fällen sicher nicht davon reden das MS-Gen gefunden zu haben.
Dennoch wurden auch andere Forscher auf die interessanten Ergebnisse aufmerksam. Leider konnten diese aber bisher nicht in unabhängigen Studien reproduziert werden. Ein Hauptkritikpunkt an der publizierten Arbeit ist die sehr geringe Zahl der Patienten, welche für die Studie herangezogen wurden. Die Gene von 2.053 MS-Patienten und 799 gesunden Personen hat man hinsichtlich der NR1H3 Mutation analysiert. Studien mit größeren Kohorten von jeweils mehr als 30.000 Personen in der Patienten- bzw. Kontrollgruppe aus derselben Datenbank, dem Exome Aggregation Consortium (ExAC), zeigen keine signifikante Assoziation der beschriebenen Mutation und der Entstehung von MS. Zudem wurden schwere Mängel an der statistischen Auswertung der gesammelten Daten festgestellt. Eine wichtige statistische Kenngröße ist beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, dass die Mutation und das Auftreten der MS Erkrankung gekoppelt vererbt werden, die sog. LOD (logarithm oft odds). Gewöhnlich wird eine LOD von >3 als signifikant angenommen. Die präsentierten Daten erreichen aber lediglich einen Wert von 2,2.
Die Autoren der Publikation mussten wohl zurecht einiges an Kritik einstecken. Die aufgedeckten Mängel lassen doch starke Zweifel an den hochrangig veröffentlichten Ergebnissen aufkommen. Schade eigentlich, sagen auch die Kritiker wie der US-amerikanische Genetiker Dr. Chris Cotsapas, „Eine solche Entdeckung hätte enorme Auswirkungen für die Diagnose der verschiedenen MS-Formen, für die Prognose und genetische Beratung und eventuell auch für die Kontrolle unauffälliger Krankheitsträger.“ Die Identifizierung verantwortlicher genetischer Hotspots sind ein aussichtsreicher Ansatz, die prinzipiellen Pathomechanismen der MS zu klären und darauf aufbauend neue Therapieansätze zu generieren. Wäre eine so bedeutsame genetische Prädisposition bekannt, könnte man womöglich schon vor und nicht erst während erster subakuter Episoden neurologischer Fehlfunktionen therapierend eingreifen. Einer aktuellen Studie zu Folge ist genau dies, das frühe Eingreifen, wichtig und förderlich für einen optimalen Therapieerfolg. Doch sollten wir dabei mit Bedacht handeln und uns nicht zu Schnellschüssen verleiten lassen. So mahnt auch Dr. Daniel McArthur von der Harvard Medical School. „Wir müssen uns an die wissenschaftlichen Prinzipien halten, bevor wir folgenschwere Rückschlüsse aus unseren Forschungsdaten ziehen. Dies schließt präzise statistische Analysen und unabhängige Wiederholungen mit ein.“ Es muss also sorgfältig, gründlich und sauber weitergeforscht werden, damit dem genetischen Kurzschluss nicht wieder eine wissenschaftliche Kurzschlussreaktion folgt.