Mangelnde Therapietreue bei Patienten ist für Ärzte und Apotheker tagtäglich eine Herausforderung. Sie hoffen, mit Apps ihre Patienten eher bei der Stange zu halten. Doch welchen Mehrwert zeigen moderne Tools wirklich? Jetzt liegen neue Daten vor.
Gesundheitsökonomen schätzen, dass Patienten jedes zweite Medikament nicht richtig einnehmen. In Europa führen sie 200.000 Todesfälle pro Jahr unter anderem auf mangelnde Adhärenz zurück. Besonders kritisch sind Langzeit-Therapien oder Krankheiten mit geringem Leidensdruck. Je größer die Anzahl der Präparate ist, die Betroffene einnehmen müssen, desto schlechter sieht es mit der Erfolgsquote aus. Adhärenz bei Glivec®. Quelle: Inselspital Bern / Slideshare Unter den bekannten Risikogruppen sprechen Ärzte derzeit nur jeden zweiten Patienten an, schreibt Wendy Clyne aus dem britischen Coventry: eine – wie sie kommentiert – „verpasste Chance“. Ob smarte Technologien diese Lücke schließen, war lange Zeit umstritten.
Noch vor drei Jahren kamen Forscher von IMS Health bei einer Studie zu wenig schmeichelhaften Ergebnissen. Sie hatten mehr als 43.000 Gesundheits-Apps unter die Lupe genommen. Bei 200 kleinen Programmen ging es um die Verbesserung der Adhärenz über Erinnerungsfunktionen oder Einnahmelisten. Weitere 225 Tools halfen Patienten, Medikamente online zu bestellen, inklusive Suchfunktionen oder Preisvergleich. Die Autoren kritisieren fehlenden Studien zum tatsächlichen Mehrwert. Gleichzeitig würden vor allem technikaffine Patienten erreicht, die nicht unbedingt zur Zielgruppe gehörten.
Dieses Argument trifft heute nur noch bedingt zu. Wie Statista berichtet, haben heute 89 Prozent aller 14- bis 29-Jährigen ein Smartphone. In der Gruppe von 30 bis 49 Jahren sind es 82 Prozent, und bei den 50- bis 64-Jährigen 65 Prozent. Selbst in der Generation 65plus besitzen 25 Prozent smarte Geräte. Im Jahr 2015 gaben rund 60 Prozent aller User an, bis zu 60 Minuten pro Tag das mobile Internet mit ihrem Smartphone zu nutzen, Apps inklusive: eine gewaltige Chance, um viele Menschen ohne Aufwand zu erreichen.
Das Prinzip machte sich jetzt Angela Pfammatter aus Chicago zu Nutze. Sie entwickelte im Rahmen des indischen mDiabetes-Programms von Arogya World ein spezielles Programm. Ihr Ziel war es, die Verhaltensweisen von Risikopatienten zu ändern – und zwar durch mehr Bewegung und sinnvolle Ernährungsgewohnheiten. Auch hier reden sich Ärzte und Apotheker den Mund fransig. Kaum haben Patienten die Apotheke oder Arztpraxis verlassen, fallen sie wieder in alte Verhaltensweisen zurück. Pfammatter nahm 982 Probanden in die Interventionsgruppe auf. Sie erhielten innerhalb von sechs Monaten 56 laiengerecht aufbereitete Informationen auf ihr Smartphone. Ihre Daten verglich Pfammatter mit 943 Personen einer Kontrollgruppe. Am Ende des Beobachtungszeitraums nahmen 611 (62 Prozent) beziehungsweise 632 Teilnehmer (67 Prozent) an Abschlussinterviews teil. Von ihnen hatten 299 versus 185 ihre Gewohnheiten nachhaltig verändert. Trotz methodischer Schwächen zeigt die Arbeit, dass regelmäßige Erinnerungen dazu beitragen, dass mehr Patienten medizinische Empfehlungen befolgen.
Die Arbeitsgruppe „Alter und Technik“ an der Berliner Charité machte sich motivierende Effekte bei multimorbiden Patienten zu Nutze. Zusammen mit dem Softwareentwickler smartpatient entstand die App „MyTherapy“. Sie ist mehr als ein reiner „Pillenwecker“. Quelle: MyTherapy Patienten werden nicht nur bei der Pharmakotherapie unterstützt, sondern auch bei der Erledigung relevanter Aufgaben. Haben sie heute Nachmittag schon ihren Blutdruck oder Blutzucker gemessen? Haben Sie ihre Werte eingetragen? Oder wie wäre es mit einem 20-minütigen Spaziergang? Eine Pilotstudie mit 30 Teilnehmern zeigte nicht nur mehr Therapietreue, sondern auch ein besseres psychisches Wohlbefinden.
Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. US-Forschern zufolge scheitern viele Pharmakotherapien daran, dass Patienten ihre dringend benötigten Arzneimittel zu spät ordern. Das muss nicht sein: Ketten wie Walgreens haben Apps entwickelt, um Rx-Nachbestellungen zu erleichtern. Patienten scannen lediglich den Barcode ein, um Präparate zu ordern. In den USA übermitteln Arztpraxen ihre Verordnung meist direkt an die Apotheke. Etliche Apotheken haben Tools, um Nachbestellungen zu synchronisieren. Einen aus deutschem Blickwinkel weitaus ungewöhnlicheren Lösungsweg hat Jalpa A. Doshi von der University of Pennsylvania School of Medicine untersucht. Doshi nahm 691 Versicherte von Medicare in eine Studie auf. Die Teilnehmer benötigten zwei bis sechs Pharmaka als Dauertherapie, allen voran Antihypertonika, orale Antidiabetika oder Lipidsenker. Über synchronisierte „Refill-Programme“ erhielten sie alle benötigten Medikamente gleichzeitig, sollten ihre Vorräte zur Neige gehen. Verglichen mit 695 Versicherten ohne entsprechende Unterstützung verbesserte sich die Adhärenz um fünf Prozent. Das scheint auf den ersten Blick recht wenig zu sein. In einer Subgruppe mit besonders hoher Fehlerrate fand Doshi jedoch Verbesserungen von bis zu 13 Prozent. Und Pharmazeuten freuen sich über regelmäßige Rx-Bestellungen.
Nicht nur Apotheken verfolgen mit modernen Technologien eigennützige Ziele. Entwickeln pharmazeutische Hersteller Tools zur Verbesserung der Therapietreue, haben sie ebenfalls Hintergedanken, wie die Unternehmensberatung Accenture berichtet. Forscher hatten 200 Pharma-Führungskräfte aus Europa und aus den USA befragt. Von ihnen gaben 85 Prozent an, stärker als bislang in Patientendienste zu investieren. Das Spektrum reicht von reinen Online-Portalen bis hin zu Smartphone-Diensten. Doch Therapietreue hat noch weitere positive Aspekte: Adhärenz führt zu weniger Folgebehandlungen und letztlich zu sinkenden Kosten. Damit könnte man sich wiederum Mittel für die Finanzierung und Erstattung innovativer Arzneimitteltherapien sichern, so die Hoffnung. Hochpreiser stehen bei GKVen nach wie vor in der Kritik. Und hier schließt sich der Kreis: Niemand sieht es gerne, wenn Patienten ihre teure Therapie eigenmächtig abbrechen.