Behandlungen mit Off-Label-Medikamenten sind umstritten – auch in der Tumormedizin. Eine neue Studie will jetzt beweisen, dass es sinnvoll ist, beim Medikamenteneinsatz weniger auf den Tumortyp, sondern mehr auf den Stoffwechsel der entarteten Zellen zu achten.
Noch mehr in Amerika als in Europa löste der kurze Vortrag auf der Jahreskonferenz der amerikanischen Onkologen (ASCO) im Juni dieses Jahres einen Hype aus. Insbesondere amerikanische Medien berichteten über die ersten Zwischenergebnisse einer Studie, die sich mit nichts anderem befasste als mit dem Gebrauch von Medikamenten entgegen ihrer eigentlichen Indikation, dem „off-label-use“. Viele sahen in diesem Bericht eine erste Abkehr vom Prinzip, den Tumor entsprechend seiner Herkunft und damit seiner Histologie zu behandeln. Sind diese ersten Zwischenergebnisse der so genannten „My-Pathway“-Studie ein Zeichen der zukünftigen Dominanz der Molekularbiologie über bisherige etablierte Leitlinien und Zulassungsbeschränkungen?
Vor etwa vier Jahren publizierte das New England Journal eine Studie zum Nutzen von Acetylsalicylsäure (ASS) bei Kolonkarzinomen. Das Schmerzmittel hat dann eine besonders große Wirkung, wenn der Tumor eine Mutation bei PIK3CA (Phosphatidylinositol-4,5-Bisphosphonat 3-kinase) aufweist, einem Enhancer des ASS-Bindungspartners Cox-2. Das ist durchschnittlich bei 17 Prozent aller Patienten der Fall, erhöht dann aber deren Überlebenschancen um mehr als 80 Prozent. Ohne die entsprechende Tumormutation ist die tägliche Tablette dagegen wohl wirkungslos. Entsprechend jüngeren Berichten scheint ASS nicht nur bei Darmkrebs zu wirken, sondern auch Ösophagus-Karzinome wirkungsvoll anzugehen.
Dass moderne Krebstherapien sich weniger um den Tumortyp, sondern vielmehr um den Stoffwechsel der entarteten Zellen kümmern, war auch Grundlage für die Multi-Center-Studie, die John Hainsworth aus dem Sarah Cannon Forschungsinstitut im amerikanischen Nashville initiiert hatte und die 2014 startete. Hainsworth und Kollegen suchten sich Patienten mit fortgeschrittenem soliden Tumor, die alle im Schnitt drei erfolglose Tumorbehandlungen hinter sich hatten. Alle Teilnehmer wurden molekularbiologisch genau charakterisiert und hatten Veränderungen in den Krebs-Schlüsselgenen HER2, BRAF, Hedgehog und EGFR im Lauf ihrer Erkrankung entwickelt. Die Ergebnisse der Gruppeneinteilung in molekulare Muster bestimmte dann deren Therapie. Her2-Patienten erhielten Trastuzumab und Pertuzumab, solche mit Braf-Mutation Vemurafenib. Vismodegib und Erlotinib nahmen im Rahmen dieser Studie den Kampf in Tumoren mit Hedgehog- und EGFR-Mutationen auf. Für keinen dieser Patienten gab es aufgrund seiner bisherigen histologischen Tumorcharakteristik eine Indikation für den entsprechenden Wirkstoff. Bei 129 Teilnehmern wurde nach drei bis elf Monaten Behandlungszeit nun eine erste Zwischenbilanz gezogen. Mit 61 Betroffenen dominierten die Veränderungen – also Mutation, Amplifikation oder Überexpression am Her2-Gen. Zwanzig dieser Veränderungen gehörten zu einem fortgeschrittenen Kolonkarzinom, acht zu einem Blasenkarzinom und sieben zu einem nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom. In dieser Gruppe stellten die Forscher auch Behandlungserfolge fest, die sie vorher so nicht erwartet hatten. Ein Drittel der Darmkrebspatienten reagierte auf die zielgerichtete Trastuzumab-Therapie mit einem mehr als 30-prozentigen Rückgang des Tumors, ebenso drei Patienten mit Blasenkrebs und zwei der Lungenkrebs-Probanden. Auch bei den 33 BRAF-Tumoren reagierte im Durchschnitt ein Viertel der Patienten mit einer kompletten oder partiellen Remission. Insgesamt 12 verschiedene Tumortypen sprechen auf die Behandlung mit einem Mittel an, das für sie eigentlich nicht vorgesehen ist. John Hainsworth ist Initiator der MyPathway-Studie ©ASCO/Rodney White 2016
Insgesamt gesehen erreichte die neue Herangehensweise an die onkologische Behandlung eine Komplettremission, 28 partielle Remissionen und 40 mal zumindest einen vorübergehenden Stop der Krankheit. Die Charakterisierung des Tumors, entsprechend seiner molekulargenetischen Charakteristika, ist noch kein Allheilmittel. Denn bei der Hälfte der Partialremissionen kam der Tumor nach rund einem halben Jahr wieder zurück. Dennoch sind die Autoren mit ihren Ergebnissen zufrieden. „Unsere Ergebnisse weisen darauf hin,“ so John Hainsworth, „dass etwa die gezielte Her2 Therapie jenseits der bisherigen Indikationen von Brust- und Magenkrebs ausgeweitet werden könnte.“ Besonders denke er dabei an das Kolorektalkarzinom. Daher soll die Studie auch bis 2019 weiterlaufen und am Ende 500 Teilnehmer umfassen. Geplant ist dabei, auch neue Therapieoptionen einzuschließen und erfolglose fallen zu lassen.
MyPathway, gesponsert von der Biotech-Firma Genentech, ist nicht die einzige Studie, die sich auf die Behandlung von Krebszellen entsprechend ihrer „Driver“-Mutationen spezialisiert. Mit der TAPUR-Studie wollen Forscher eine Datenbank aufbauen, wo sich der Einsatz zielgerichteter Wirkstoffe in der Onkologie, unabhängig von der Herkunft des Tumors, lohnt. Besonders solide Tumoren im fortgeschrittenen Stadium, Multiple Myeloma und non-Hodgkin B-Zell-Lymphome stehen dabei im Blickwinkel der Forscher. Ein ganzes Panel an Pharmafirmen, unter ihnen die „Big Player“ AstraZeneca, Bayer, BMS, Eli Lilly, Merck und Pfizer, will dafür seine Wirkstoffe und das entsprechende Wissen um deren Anwendung zur Verfügung stellen. Ähnliche Untersuchungsansätze betreibt auch die Signature-Studie (Novartis) oder die NCI-MATCH-Studie.
Bei all der großen Publicity, die MyPathway auf dem ASCO-Treffen bekam, gibt es auch Kritik. So fehle etwa bei dieser „Single-arm“-Studie der Vergleich zu einer Kontrollgruppe, um einen „Netto-Effekt“ des neuen Ansatzes zu bestimmen. Noch im letzen Jahr kam die französische „SHIVA“-Studie zu dem Schluss: „Der Einsatz von Wirkstoffen mit einem Ziel auf Molekularebene ausserhalb ihrer Indikation verbessert nicht nicht das progressionsfreie Überleben, verglichen mit dem Mittel der Wahl des behandelnden Arztes.“ Schließlich zeigen bereits Daten zu Tumoren mit BRAF-Mutation, dass dort die entsprechenden Inhibitoren zwar bei Melanomen wirkten, jedoch nicht bei Kolorektalkarzinomen mit der gleichen Mutation. Was ist „Treiber“ was ist nur „Mitläufer“ beim schnell wachsenden Tumor? Untersuchungen dieser Art könnten Antworten auf die Frage bringen, warum manche gezielte Intervention den Tumor kalt lässt. Rund 76 Copy-Number Mutationen und mindestens 30 bis 80 funktionelle Einzelbasen-Austausche kommen etwa bei einer durchschnittlichen Brustkrebszelle zu den mehreren tausend somatischen Mutationen beim Menschen im Laufe seines Lebens dazu. Ob Trastuzumab, Erlontinib und Co. im Idealfall den Antreiber für unbegrenztes Wachstum treffen, oder ob andere Veränderungen den Tumor weiter am Wachsen halten, dazu könnten Studien wie MyPathway in einigen Jahren genauere Antworten geben. Die derzeit laufenden Studien mit ihren geringen Teilnehmerzahlen sollten dafür erst der Anfang sein.