Unklare Diagnosen mögen Ärzte nicht. Unsicherheit vor dem Patienten zuzugeben, noch weniger. Hausärzte kennen dieses Problem gut: Sie haben es mit einem großen Spektrum an Symptomen und möglichen Diagnosen zu tun. Manche verlieren sich dabei in der Diagnostik.
Man spricht mit dem Patienten, untersucht ihn und die Diagnose lautet ganz klar: uneindeutig. Aus Sicht der meisten Patienten sind Ärzte allwissend. Sie filtern konkrete Krankheitssymptome heraus, stellen dann eine exakte Diagnose und leiten die perfekt auf die Beschwerden zugeschnittene Therapie ein. So einfach ist es aber nicht immer. Der Arzt hat oft mehr Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten, als ihm lieb ist. Je mehr unterschiedliche Diagnosen denkbar sind, desto schwieriger ist es, Entscheidungen zu treffen. Wie soll man sich als Arzt gegenüber seinem Patienten verhalten, wenn die Lage unklar ist?
Dem Wissen um die eigenen Grenzen des Wissens und der Grauzone bei der Anamnese können Ärzte unterschiedlich begegnen:
Besonders Allgemeinärzte bekommen täglich Menschen mit einer fast unerschöpflichen Bandbreite möglicher Krankheiten zu sehen, die sich schnelle Besserung erhoffen. Hier vermischen sich Psyche des Kranken und sein soziales Umfeld und oft ganz uncharakteristische, oft nur schwache Symptome zu einem Bild, das nicht selten schwer zu deuten ist. Wie also handeln, wenn man nicht weiter weiß? Zur Sicherheit den Patienten einfach einmal unter stationäre Beobachtung schicken? Schwierig. Natürlich ist die Fehlerrate in dieser Umgebung höher als in der technisch bestens ausgerüsteten Klinik, wo Patienten mit Vorbefunden und stark ausgeprägten Krankheitsbild auf ihre Behandlung durch Spezialisten für eben diese Symptome warten. In der Literatur publizierte Schätzungen gehen von nur rund zehn Prozent ganz eindeutiger Diagnosen aufgrund der vorliegenden Symptome aus. Fehldiagnosen kommen in der Hausarztpraxis öfter als in anderen Behandlungszentren vor. Die Rate soll entsprechend einer groben Schätzung rund 20 Prozent betragen und unabhängig von der Expertise des Behandlers sein.
Wie sag ich es meinem Patienten? Sollte der überhaupt erfahren, dass sein Arzt nicht ganz genau weiß, woher die Beschwerden kommen und wie sie zu behandeln sind? Viraj Bhise und seine Kollegen aus Houston zeigen in einer Studie, die Anfang des Jahres im „International Journal for Quality in Health Care“ erschien, dass etwa Eltern ihrem Kinderarzt und dessen Behandlungsvorschlägen weniger vertrauten, wenn der seine Unsicherheit bei einem hypothetischen Fall explizit ausdrückte. „Ich bin mir bei der Diagnose unsicher.“, wäre damit wohl keine gute Antwort. Besser, so ergab die Untersuchung, ist die Erläuterung verschiedener Möglichkeiten oder die vorläufige Diagnose mit einem „wahrscheinlich“ zu kennzeichnen. Beide Möglichkeiten wurden von den je rund 25 Teilnehmern auf ihrem Fragebogen mit etwa gleich viel Vertrauen zum Arzt und Therapietreue belohnt. Auf dem Weg zur wahrscheinlich richtigen Diagnose wird der Arzt zunächst einmal seiner Erfahrung vertrauen. In seiner täglichen Praxis als Allgemeinarzt kann er bei einer ersten Einschätzung die Wahrscheinlichkeit einzelner Erkrankungen heranziehen. Bei einem Patienten mit Schmerzen in der Brust liegt etwa das Risiko für eine koronare Herzkrankheit bei etwa 10 Prozent in seinem Patientenkollektiv, während das in der Notaufnahme einer Klinik ganz anders aussieht und rund 50 Prozent ausmacht. Zum anderen haben seine Patienten bei rund 10 Prozent der Arztbesuche schon eine Vermutung über die Ursache ihrer Beschwerden. Bei einigen häufigen Krankheiten wie Harnwegsinfekten, Kopfläusen oder einer anterioren Uveitis liegen sie in vier Fünftel aller Fälle damit richtig.
Eine ganze Testbatterie gegen die eigene Unsicherheit bei der Diagnose abzufeuern, ist in den meisten Fällen keine gute Idee. Im Vergleich von meist unnötigen Ausgaben zu Lasten des Budgets und dem Nutzen – gerade bei schwachen Symptomen oft fraglich – bringt die Serie von Laborergebnissen nur wenigen Fällen absolute Sicherheit. Ähnlich sieht es auch bei der Therapie aus. Unsicherheit etwa bei Infektionen der unteren Atemwege führt häufig zu übermäßiger Verschreibung von Antibiotika - auch aus Angst vor einer schweren Infektion. Eine große Kohortenstudie mit mehr als 28 000 Patienten zeigte jedoch, dass auch ohne Antibiotika solche Komplikationen sehr selten vorkommen. Unabhängig vom Behandlungsergebnis meldete sich etwa jeder fünfte Patient im Laufe seiner Erkrankung ein zweites mal bei seinem Arzt.
Um Patienten die Strategie bei unsicherer Diagnose oder Gesundheitsrisiken zu erklären, hat das Harding-Institut für Risikokompetenz unter Leitung von Gerd Gigerenzer so genannte „Faktenboxen“ entwickelt. Sie fassen die wichtigsten Studienergebnisse zu bestimmten Gesundheitsfragen zusammen und beleuchten bei Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen Schaden und Nutzen anhand von absoluten Risikoziffern. Bei der Frage einer Ultraschalluntersuchung zur rechtzeitigen Erkennung von Ovarialkarzinomen, informiert die Faktenbox, dass sich die Mortalität pro 1.000 Frauen in jeder Gruppe – mit oder ohne Screening – genau die Waage hält. „Daher gibt es keine Evidenz dafür“, so Gigerenzer, „dass diese Untersuchung Leben rettet.“ Faktenbox für Mandelentfernung @ Harding-Zentrum für Risikokompetenz Unnötige Kosten könnten aufgrund der besseren Information in der Allgemeinarztpraxis eingespart werden, rechnet Gigerenzer in einem Editorial im British Medical Journal vor: „2014 empfahlen deutsche Ärzte den transvaginalen Ultraschall bei rund drei Millionen Frauen. Mehr als zwei Millionen mal wurde so untersucht. Bei wahrscheinlich mehr als 10.000 Frauen wurden so gesunde Ovarien entfernt. Rund 75 Millionen Euro Eigenanteil der Patientinnen kamen zu den Beschwerden dazu, abgesehen von unzähligen unnötigen Operationen und postoperativen Komplikationen.“
Bisher sind rund zwei Dutzend solcher Faktenboxen entstanden, unter anderem für die Bildgebung bei unspezifischem Rückenschmerz, Injektionen ins Kniegelenk bei Arthrose oder dem Einsatz von Statinen bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das Harding-Institut arbeitet bei der Entwicklung mit der AOK zusammen, die diese Informationen auf ihren Webseiten publiziert. Auch der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger hat das Angebot inzwischen übernommen. Ähnliche Entscheidungshilfen aus der Zusammenarbeit mit der Bertelsmann-Stiftung hat auch die „Weisse Liste“ auf ihrer Webpräsenz. Mandelentfernung bei Mandelentzündung @ Weisse Liste Kann der Arzt etwa Vorsorgeuntersuchungen wie Mammographie oder Kolonoskopie bei einer relativ hohen Rate an falsch positiven Ergebnissen und einer sehr geringen Differenz bei der absoluten Mortalität mit reinem Gewissen empfehlen? Die Entscheidung für oder gegen eine solche Untersuchung wird eine individuelle bleiben, nicht zuletzt abhängig von der Einstellung des Patienten zu gesundheitlichen Risiken und deren Absicherung - und von der Persönlichkeit seines Arztes.
Aber nicht immer ist die vernünftige Lösung auch die einfachere: Denn das allwissende Netz und aggressive Patientenorganisationen erwarten den fehlerfreien Arzt. Typisch dafür ist die Geschichte eines einzelnen Patienten, den der Arzt hätte retten können, hätte er nur eine andere Entscheidung getroffen. Diese eine falsche Diagnose kann damit den Ruf eines guten Hausarztes schweren Schaden zufügen. „Denn die Organisationen“, so sagt Richard Schwartzstein von der Harvard Medical School, „erzählen selten Geschichten einer großen Anzahl an Patienten, die wegen Diagnosefehlers oder eines unnötigen Eingriffs nur milde Folgen spüren“. Gibt es eine Taktik, um solchen Klippen aus dem Weg zu gehen? Eine der strategischen Möglichkeiten beschreibt Norbert Donner-Banzhoff von der Philipps-Universität Marburg in einem Artikel in der Zeitschrift „ZEFQ“, der mittlerweile zehn Jahre alt, aber immer noch aktuell ist. Er vergleicht die Entscheidungsfindung im Sprechzimmer mit einem Grat im Gebirge, der anfangs sehr steil nach beiden Seiten abfällt, sich in seinem Verlauf aber dann immer mehr abflacht. Dabei soll eine Einteilung in eine „gutartige“ oder „bedrohliche“ Erkrankung am Beginn (des Grats) möglichst schnell erfolgen, ohne sich allzu lange auf der gefährlich scharfen Schneide aufzuhalten. Mit der Zeit wird der Grat dann immer ungefährlicher, weil „Red Flags“ immer deutlicher werden oder die Beschwerden allein im Laufe der Zeit ohne Zutun immer mehr abklingen. Fehlen somit die Symptome für unmittelbar drohende Lebensgefahr, kann sich die Entscheidung für das weitere Vorgehen auch auf dem flacher werdenden Grat ohne allzu großes Risiko noch etwas hinauszögern. Diese Red Flags darf der Arzt bei einer solchen Prozedur aber nicht übersehen. So bedarf etwa eine plötzliche Gewichtsabnahme, Hämaturie oder Blut im Stuhl unbedingt einer weiteren Abklärung, um ein Malignom auszuschließen, selbst wenn dessen Häufigkeit bei einem dieser Symptome immer noch gering ist. Umgekehrt sind Rückenschmerzen ohne weitere wichtige Symptome kein Fall für sofortiges Handeln.
Leben mit der Unsicherheit fällt Ärzten schwer. Nicht-wissen und Nicht-wissen-können sind für sie bereits während des Medizinstudiums eine äußerst unangenehme Vorstellung. Das belegt auch eine Untersuchung an der Hochschule: Studenten, die gut mit dem Thema Unsicherheit umgehen konnten, spezialisierten sich eher auf die Fächer Psychiatrie, Allgemeinmedizin und Innere Medizin. Die weniger toleranten interessierten sich dagegen für Anästhesie, Chirurgie und Radiologie. Nicht wenige Experten spekulieren sogar, dass es bei zunehmender Technisierung der Medizin immer weniger Kandidaten gäbe, die mit der Unsicherheit in der täglichen Praxis umgehen könnten. Der immer größere Mangel an Allgemeinmedizinern wäre damit auch darauf zurückzuführen.