Nach Österreich ist mittlerweile auch hierzulande retardiertes Morphin für die Substitutionstherapie bei Opiatabhängigen verfügbar. Ob es eine geeignete Ergänzung für die bisherigen Substitute auf dem deutschen Markt ist, müssen vor allem herstellerneutrale Studien beweisen.
Ein Ergebnis der aktuellen deutschen DRUCK-Studie lautet: Durchschnittlich 57 Prozent der Suchtpatienten konsumieren im letzten Monat ihrer Substitutionsbehandlung Opiate aller Art, auch Methadon, Buprenorphin und Morphin. Es gehört zu der Suchterkrankung dazu, dass substituierte Drogenpatienten ihre Ersatzdrogen als Drogenersatz einsetzen. Die Gründe hierfür sind vielfältig und sollten den Patienten nicht stigmatisieren. Auch ein zu niedriger Spiegel des Substitutes, eine zu hohe metabolische Aktivität des Patienten oder Komorbidität führen zu einer Fehlanwendung der Substitute oder zu einem Beigebrauch anderer Drogen. Sehr häufig ist die Motivation, durch das Injizieren des verschriebenen oder anderen Substitutes einen „Kick“ zu erlangen. Grundsätzlich können alle Substitute missbraucht werden. Auf dem Markt befanden sich bisher Methadon, L-Methadon, Buprenorphin und die Kombination aus Buprenorphin und dem Antagonisten Naloxon. Die letztgenannte Kombi soll einem Missbrauch durch Spritzen oder Schniefen vorbeugen.
In den USA ist ein Implantat mit Buprenorphin zugelassen, das einen Missbrauch komplett verhindert. Vier Implantate werden in einer kleinen Operation unter die Haut des Oberarms implantiert, wo sie über einen Zeitraum von sechs Monaten eine kontinuierliche Menge des Opiats in die Blutbahn abgeben. Opiatabhängige, die das Implantat erhielten, verzichteten zu 63 Prozent auf den illegalen Konsum weiterer Opiate. In einer Vergleichsgruppe, die Buprenorphin in Form von Sublingualtabletten anwendete, blieben 64 Prozent ohne Beikonsum.
In Österreich wird retardiertes Morphin in Kapselform bereits seit dem Jahre 1998 zur Behandlung der Opioidabhängigkeit verwendet, in Deutschland seit April 2015. Obwohl laut österreichischer Suchtgiftverordnung Morphin nur dann verschrieben werden darf, wenn andere Mittel nicht vertragen werden, ist es in Österreich Substitutionsmittel Nr. 1. In Wien werden 80 Prozent der Suchtpatienten mit retardiertem Morphin versorgt. Morphin unterliegt nach oraler Applikation einem ausgeprägten First-Pass-Effekt. Die Bioverfügbarkeit beträgt nur 20–40 Prozent. Es wird nicht über CYP-Enzyme metabolisiert, was das Risiko für Interaktionen mindert. Es bilden sich die aktiven Metabolite Morphin-3-glucuronid und in geringerer Menge Morphin-6-glucuronid. Diese werden renal ausgeschieden und können bei Niereninsuffizienz kumulieren und eine Atemdepression verstärken. Morphin bindet fast ausschließlich an μ-Rezeptoren (MOR) und ist, verglichen mit den anderen Substituten wenig lipophil. Das erschwert es ihm, die Bluthirnschranke zu überwinden. Zum Erreichen der optimalen Tagesdosis ist eine individuelle, schrittweise Dosisanpassung erforderlich. Die Erhaltungsdosis richtet sich danach, inwieweit Entzugssymptome auftreten und das Opioid-Verlangen unterdrückt wird. Die Dosis sollte grundsätzlich so niedrig wie möglich sein. Sie liegt meist zwischen 500–800 mg, wobei erhebliche Abweichungen nach oben oder unten möglich sind.
In einer Querschnittstudie von Springer et al. wurden Methadon, Buprenorphin und Morphin miteinander verglichen. Bei zahlreichen Kriterien schnitt Methadon dabei schlechter ab. Vorteile für Morphin gegenüber Methadon sind die fehlenden Nebenwirkungen auf das Herz und geringeres Schwitzen. Viele Patienten leiden jedoch unter Verstopfung und geminderter sexueller Lust. Auch das Team um Beck und Haasen lassen Morphin in ihrer Studie ausgesprochen gut wegkommen. Es unterdrückt das Craving stärker als Methadon und ist bei den Patienten beliebter. Es wird in der Studie angegeben, dass sich der Hersteller von retardiertem Morphin finanziell beteiligt hat. Eine randomisierte Crossover Studie verglich retardiertes Morphin mit Methadon, dabei schnitt Morphin ebenfalls besser ab. Die Gründe: Mehr Zufriedenheit, weniger kardiale Komplikationen. Auch diese Studie wurde von der Herstellerfirma des Morphinpräparates (mit)finanziert. Methadonautomat in der Apotheke © Bastigkeit
Ein ganz anderes Ergebnis brachte eine Vergleichsstudie der Arbeitsgruppe Giacomuzzi et al. Die mit Morphinsulfat substituierten Patienten zeigten insgesamt mehr negative physische und psychische Begleiterscheinungen als die Methadongruppe. 43,3 Prozent der Patienten der Morphinsulfatgruppe mussten wegen psychischer Probleme Medikamente einnehmen, gegenüber 6,6 Prozent in der Methadongruppe. Die Nebenwirkungen Magenkrämpfe, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und Libidoverlust waren in der Morphingruppe signifikant stärker ausgeprägt. Im Weiteren konnte ein erhöhter Konsum anderer Drogen (Kokain, Haschisch etc.) in der Morphinsulfatgruppe festgestellt werden. „Die Auswertung der subjektiven Daten zwischen methadon- und morphinsulfatsubstituierten Patienten bestätigte nicht die genannten Postulate der Morphinsulfat-Befürworter“, so das Resümee der Autoren. Ein Vorteil von Morphin ist, dass es, verglichen mit Methadon, die QT-Zeit erheblich geringer beeinflusst [Paywall].
Auch wenn grundsätzlich eine Vielfalt im Bereich der Substitutionsmittel zu begrüßen ist, muss die Zukunft zeigen, ob retardiertes Morphin für den deutschen Markt eine geeignete Ergänzung für die bisherigen Substitute ist. Methadon ist für den Patienten, der lange Zeit und in hohen Dosen Opiate intravenös konsumiert hat und eine geistige Dämpfung wünscht. Buprenorphin löst eine geistige Klarheit aus und wirkt leicht antidepressiv, es ist schwerer zu missbrauchen als Methadon. In der Kombination mit Naloxon ist der Missbrauch nahezu unmöglich. Morphin wirkt weniger sedierend als Methadon aber stärker als Buprenorphin. Es kommt in seiner Wirkung dem Heroin recht nahe und das Risiko für einen Missbrauch ist hoch. Weitere, herstellerneutrale Studien müssen den Stellenwert in der Substitutionslandschaft noch stärken. Ein weiterer Nachteil für Morphin ist (bis jetzt) die Problematik der Analytik als Beigebrauch. Die meisten Heroinschnelltests schlagen bei Morphin falsch positiv an. Im Rahmen von polizeilichen Kontrollen kann dies primär zu einem Problem werden. Laborchemisch ist ein Nachweis möglich, ein Schnelltest soll in einigen Monaten zur Verfügung stehen.
Die meisten Drogentoten sterben an retardiertem Morphin. Wird die Kapsel gelöst und gespritzt, besteht für den Konsumenten Lebensgefahr. Die Hülle der Morphinkügelchen (Pellets) ist im Blut unlöslich und kann die Gefäße verstopfen. Diese Gefahr geht auch vom Talkum aus, das in vielen Tabletten enthalten ist. Bereits vor mehr als 12 Jahren warnte das österreichische Bundesinstitut für Gesundheitswesen ausdrücklich vor Talkum in Substituten. Denn Talkum wirkt wie Asbest im Körper, es nistet sich in der Lunge, auf Herzklappen, den Nieren, den Gefäßen und den Augen ein und führt zu multiplen Schäden. Eine Talkumbeigabe kann keinen Missbrauch verhindern, sie gefährdet nur den Konsumenten. Natürlich wissen die Suchtkranken, dass es gefährlich ist, die Substitute zu spritzen, aber der Suchtdruck ist oft größer als die Gefahr vor Organschäden oder dem Tod. In einer Kasuistik berichten Arellano-Maric und Schwarz von einem 53jährigen Patienten mit einer pulmonalen Talkose, der sich in seiner Jugend talkumhaltige Tabletten injiziert hat. Sechs Jahre vergingen bis zur richtigen Diagnose. Auch pulmonale Hypertonien und dilatative Herzveränderungen nach Injektion von talkumhaltigen Tabletten im Rahmen eines Drogenkonsums werden beschrieben, so in einer Übersicht von Griffith et al. Auf Anfrage, warum die Kapseln nicht ohne das kritische Talkum produziert werden, teilte ein Hersteller mit: „Talkum ist als Hilfsstoff zur Füllbarkeit der Kapseln in geringen Mengen (<1,0 %) für Kapseln notwendig. Eine andere Galenik ist aktuell nicht verfügbar.“ Ein etablierter Hersteller in Österreich macht das, was die meisten deutschen Generikahersteller schon länger machen: sie produzieren Substitutionsmittel grundsätzlich talkumfrei.
Als Fazit bleibt festzuhalten: Die Drogensubstitution sollte so individuell und sicher wie möglich durchgeführt werden. Dazu gehört die Auswahl des geeigneten Substitutionsmittels und eine sichere Galenik.