Mündige Patienten sind zum geflügelten Begriff geworden, seit medizinisches Wissen ohne Einschränkung im Web zur Verfügung steht. Doch so manche Information hat auch Schattenseiten. Forscher zeigen etliche Risiken moderner Medien auf.
Dr. Google hat 24 Stunden am Tag Sprechstunde, und Wikipedia bietet Rat in fast allen Lebenslagen. Vermeintliche Krankheiten werden selbst diagnostiziert, inklusive der „richtigen“ Therapie. Auch die Laienpresse greift medizinische Fragestellungen nur allzu gerne auf. Leser oder besser gesagt Patienten zeigen großes Interesse. Jetzt haben Wissenschaftler mögliche Auswirkungen dieser Informationsflut auf Laien untersucht.
Krishnan Bhaskaran aus London ging der Frage nach, welchen Effekt Berichte über Statine auf die Therapietreue von Patienten haben. Hintergrund waren zwei kritische Berichte im British Medical Journal. John D Abramson von der Harvard Medical School in Cambridge (Massachusetts), und Aseem Malhotra vom Croydon University Hospital, London, meldeten sich zu Wort. In ihren Beiträgen aus dem Jahr 2013 bezweifeln sie, dass Patienten mit niedrigen beziehungsweise mittlerem Risiko von einer Pharmakotherapie profitieren. Britische Medien griffen das Thema mit großem Interesse auf und berichteten noch bis in das Frühjahr 2014 über Statine. Große Effekte auf das Verschreibungsverhalten der Ärzte fand Bhaskaran nicht. Doch die Patienten reagierten. Von allen, die bereits Statine zur Primärprävention einnahmen, setzten elf Prozent aufgrund von Berichten ihr Präparat ab. Bei Stainen zur Sekundärprävention waren es sogar zwölf Prozent. Auf Großbritannien umgerechnet entspricht das 200.000 zusätzlichen Personen mit Non-Adhärenz. In den nächsten zehn Jahren rechnen Forscher mit 2.173 zusätzlichen Todesfällen durch Infarkte beziehungsweise Schlaganfälle. Dieser Wert erhöht sich auf 6.372, sollten Patienten ihre Medikation komplett verweigern.
Black-Box-Warnungen (boxed warnings) ziehen ähnlich unerwünschte Konsequenzen nach sich. Zum Hintergrund: Die US-amerikanische Arzneimittelzulassungs- und -überwachungsbehörde FDA fordert Hersteller auf, schwarz umrandete Warnungen auf Packungsbeilagen zu drucken, falls Studien Hinweise auf schwere oder lebensbedrohliche Risiken ergeben. Black-Box-Warnung der FDA. Screenshot: DocCheck Jede Black-Box-Warnung erregt beträchtliches Medieninteresse – ein Teufelskreislauf, wie Christine Y. Lu gezeigt hat. Sie forscht an der Harvard Medical School, Boston. Bei Kindern und Jugendlichen führen Antidepresiva zu suizidalen Tendenzen – wenn auch nur in Einzelfällen. Grund genug für FDA-Experten, Herstellern eine Black-Box-Warnung aufzuoktroyieren. Die Maßnahme zog ungeahnte Folgen nach sich. Leitmedien, allen voran die New York Times und die Washington Post, berichteten ausführlich über das Thema. Ärztliche Verschreibungen gingen um 31 Prozent zurück. Das Phänomen betraf auch junge Erwachsene (minus 24,3 Prozent) und ältere Patienten (minus 14,5 Prozent), die eigentlich nicht im Fokus der FDA standen. Gleichzeitig erhöhten sich die Fälle von vermutlich bewusst herbeigeführten Überdosierungen bei Jugendlichen (21,7 Prozent) und jungen Erwachsenen (33,7 Prozent).
Einen weiter zurückliegenden Fall von unerwünschten Wirkungen der öffentlichen Diskussion präsentierte Professor Dr. Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung beziehungsweise vom Harding-Zentrum für Risikokompetenz auf einer Pressekonferenz der AOK. Im Jahr 1995 informierte das britischen Komitee für Arzneimittelsicherheit über lebensbedrohliche Thrombosen bei oralen Kontrazeptiva der dritten Generation. Das Risiko habe sich bei bestimmten Antibabypillen der dritten Generation verdoppelt – eine Information, mit der Laien per se wenig anfangen können. „Von 7.000 Frauen, die die Pille der zweiten Generation einnahmen, erlitt eine Frau eine Thrombose“, so Gigerenzer. „Dies erhöhte sich bei der dritten Generation des Medikaments auf zwei.“ Hätten Medien mit absoluten Zahlen argumentiert, wäre wenig geschehen. Durch die missverständliche Berichterstattung ging der Schuss nach hinten los. Es kam zu etlichen ungeplanten Schwangerschaften und zu rund 13.000 zusätzlichen Schwangerschaftsabbrüchen. Das hätte in Deutschland auch passieren können. Laut Analysen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) bestehen bei fast 60 Prozent aller Versicherten Defizite bei der Krankheitsbewältigung und Erhaltung ihrer Gesundheit. Mehr als ein Viertel findet es sehr kompliziert, gesundheitsrelevante Infos zu finden, und fast ein Drittel hat Schwierigkeiten, Medieninformationen zu interpretieren.
Sind Informationen über Laienmedien deshalb falsch? Dr. Fiona Godlee, Editor-in-Chief des BMJ, teilt diese Meinung nicht. Für sie ist die öffentliche Debatte über Nutzen und Schaden von Arzneistoffen „absolut richtig“, damit Patienten bewusster Entscheidungen träfen. Doch wissenschaftliche Daten werden ihnen dabei kaum helfen, wie die Fallbeispiele gezeigt haben. Gerd Gigerenzer sieht die „Faktenbox“ als Lösung. Sie soll unabhängige Informationen zu verschiedenen Themen übersichtlich darstellen. Mittlerweile hat die AOK elf unterschiedliche Gesundheitsthemen verständlich aufbereitet. Darüber hinaus sind Medien in der Pflicht, statistische Informationen so darzustellen, dass kein Spielraum für falsche Interpretationen bleibt. Mit vermeintlichen Sensationen ist niemandem gedient. AOK-Faktenbox (Ausschnitt). Screenshot: DocCheck