Ärztliche Sterbehilfe ist inzwischen in vielen Ländern legal. Dennoch wird sie verhältnismäßig selten angewendet, so eine aktuelle Studie. Insgesamt hat die öffentliche Zustimmung in Westeuropa und den USA zu Sterbehilfe fast kontinuierlich zugenommen.
Ob Ärzte schwer kranken Patienten zum Sterben verhelfen dürfen, wird unter ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten kontrovers diskutiert. Inzwischen ist ärztliche Sterbehilfe in immer mehr Ländern der Welt legal. Deshalb befürchten viele, dass die Zahl der Fälle deutlich ansteigen wird – und dass die Beihilfe zum Sterben auch leichtfertig oder missbräuchlich geleistet werden könnte. Zur Zeit sind in den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Kanada und Kolumbien sowohl die aktive Sterbehilfe als auch die Beihilfe zur Selbsttötung legal. Während der Arzt bei der aktiven Sterbehilfe das Leben des Patienten durch gezielte Gabe von Medikamenten beendet, stellt er bei der Beihilfe zur Selbsttötung dem Patienten das tödliche Medikament nur zur Verfügung, das dieser dann selbst einnimmt. In der Schweiz und in fünf US-Bundessstaaten ist nur die Beihilfe zur Selbsttötung legal – nämlich in Oregon, Washington, Montana, Vermont und Kalifornien. In Deutschland gilt: Die Beihilfe zur Selbsttötung ist sowohl für Ärzte als auch für Nichtärzte straffrei, sofern der Helfer dabei nicht geschäftsmäßig handelt. Aktive Sterbehilfe ist dagegen strafbar. Insgesamt ist die Rechtslage jedoch komplex – detaillierte Informationen zu einzelnen Ländern finden sich auf der Webseite des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE).
Nun hat ein Forscherteam zum ersten Mal umfassend untersucht, wie häufig Sterbehilfe angewendet wird und wie sich die Legalisierung auf die Einststellung zur Sterbehilfe und die Zahl der Fälle auswirkt. Dazu werteten die Wissenschaftler um Ezekiel J. Emanuel von der Perelman School of Medicine an der University of Pennsylvania (USA) alle verfügbaren Daten zum Thema aus den Jahren 1947 bis 2016 aus. Diese umfassten Meinungsumfragen und Studien mit Ärzten und der Allgemeinbevölkerung, Interviews mit Ärzten, offizielle Datenbanken und Studien zu Sterbeurkunden (die seit 1990 in den Niederlanden und Belgien durchgeführt werden). Ihre Ergebnisse sind jetzt in der Fachzeitschrift „JAMA“ erschienen. Die Auswertung der Daten ergab, dass Sterbehilfe insgesamt relativ selten durchgeführt wird: So waren in Ländern, in denen sie legal ist, nur 0,3 bis 4,6 Prozent der Todesfälle auf aktive Sterbehilfe oder Beihilfe zur Selbsttötung zurückzuführen. Bei 70 Prozent der Betroffenen handelte es sich dabei um Krebspatienten. Allerdings hat die Zahl der Fälle sowohl in den USA als auch in Belgien und in den Niederlanden zugenommen, seit Sterbehilfe legalisiert wurde – in den übrigen Ländern lagen dazu keine ausreichenden Daten vor. „Häufig wird angenommen, dass ärztliche Sterbehilfe weit verbreitet ist. Allerdings sind die solidesten Daten, die wir zu diesem Thema haben, bereits 15 Jahre alt“ sagt Emanuel. Zur Zeit wird in verschiedenen Ländern und US-Bundesstaaten über Gesetzentwürfe diskutiert, die solche Praktiken legalisieren könnten. „Aber im Moment besitzen wir gar kein umfassendes Wissen, wie Sterbehilfepraktiken aussehen und wie die Öffentlichkeit und die Ärzte das Thema sehen“, so der Forscher. „Wir brauchen mehr Daten, bevor solche Maßnahmen als Lösung in der palliativen Medizin eingesetzt werden.“
Ein weiteres Ergebnis der Studie: Sowohl in den USA als auch in Europa hat die öffentliche Zustimmung zu Sterbehilfe von den 1940er bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts kontinuierlich zugenommen. So lag sie in den USA im Jahr 1947 bei 37 Prozent, in den 1990er Jahren bereits bei 66 und in den frühen 2000er Jahren bei 75 Prozent. Seitdem ist sie wieder etwas zurückgegangen, nämlich auf 64 Prozent im Jahr 2012. Die Befürworter von Sterbehilfe waren dabei vorzugsweise männlich, jung, weiß und gehörten keiner Religion an. Auch in Europa zeigte sich eine zunehmende Befürwortung von Sterbehilfe. Dabei ist die Zustimmung zwischen 1999 und 2008 in den meisten westeuropäischen Ländern gestiegen, in vielen Ländern Osteuropas jedoch zurückgegangen. Emanuel und sein Team vermuten, dass dies mit der abnehmenden Religiosität in Westeuropa und zunehmender Religiosität in den ehemals kommunistischen Ländern Osteuropas zusammenhängen könnte.
Als Gründe für den Wunsch, ihr Leben zu beenden, nannten die Betroffenen vor allem den Verlust von Autonomie und Würde, fehlende Freunde am Leben und andere Formen starker psychischer Belastung. Schmerzen wurden dagegen selten als Grund genannt. Die Mehrheit der Patienten, die Sterbehilfe fordern, waren älter, männlich, weiß und relativ gebildet. Anfragen nach Sterbehilfe haben in den US-Bundesstaaten, in denen die Beihilfe zum Suizid legal ist, weniger als 20 Prozent der Ärzte erhalten – und weniger als 5 Prozent haben sie bereits geleistet. Dies deutet darauf hin, dass die Legalisierung nicht dazu führt, dass Sterbehilfe zum Regelfall wird, sondern eher eine Ausnahme in extremen Fällen bleibt. Weiterhin befanden sich die meisten Patienten, die um Sterbehilfe baten, bereits in palliativer Behandlung – was vermuten lässt, dass ihre Symptome angemessen behandelt wurden. Darüber hinaus deuten die Ergebnisse darauf hin, dass kritische Fälle – etwa lebensbeendende Maßnahmen bei Minderjährigen oder Demenzpatienten – nur einen sehr geringen Anteil der Fälle ausmachen. „Insgesamt legen unsere Daten nahe, dass es keinen umfassenden Missbrauch von ärztlicher Sterbehilfe gibt“, schreiben die Autoren. Ein weiteres Ergebnis gibt jedoch Anlass zur Sorge: Außer in den Niederlanden und den USA lagen keine Daten über die Häufigkeit von Komplikationen vor – und auch in diesen Ländern waren die Berichte häufig unvollständig. So fehlten zwischen 1998 und 2015 bei 40 Prozent der Fälle von ärztlich assistiertem Suizid Angaben zu Komplikationen. Wenn Daten zur Verfügung standen, wurden am häufigsten ein lang dauernder Sterbeprozess (länger als einen Tag), Erbrechen der Medikation und Krampfanfälle als Komplikationen berichtet.
Welche Forschungsfragen zum Thema Sterbehilfe sind nun für die Zukunft am wichtigsten? Mit dieser Frage hat sich ein Team um Mark Rodgers von der britischen University of York vor kurzem zum ersten Mal beschäftigt. Die Forscher befragten verschiedene Personengruppen, die am Thema Sterbehilfe interessiert waren, welche Fragestellungen sie als besonders wichtig ansehen. Dazu gehörten Fachleute aus dem Gesundheitswesen und der sozialen Versorgung, Wissenschaftler, Bürgerrechtler und auch Patienten. Insgesamt wurden 110 Gruppen und Einzelpersonen befragt, wobei Sterbehilfe-Befürworter und -Gegner gleichermaßen einbezogen wurden. Über 90 Prozent der Befragten stammten aus Großbritannien – wo aktive Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid verboten sind –, die übrigen kamen aus anderen Ländern Europas. Als wichtigste Forschungsfragen kristallisierten sich heraus: Wie und warum entscheiden sich Menschen dafür, ihr Leben zu beenden? Welche Faktoren beeinflussen diese Entscheidung und wie verändert sich diese mit der Zeit? Wie könnte die Lebensqualität von Patienten mit einer unheilbaren Erkrankung in der letzten Lebensphase verbessert werden? Was bedeutet für sie genau „Lebensqualität“? Was bedeutet für sie „unerträgliches Leiden“? Weitere Fragestellungen, die von einer Mehrheit der Befragten genannt wurden, lauteten: Sind Bedenken, dass schwer kranke Patienten zu Sterbehilfe gedrängt werden, zutreffend oder nicht? Und: Warum lehnen manche Patientengruppen Sterbehilfe entschieden ab? Was sind ihre Gründe, und wie könnten diese verändert werden? „Diese Fragestellungen sollten Gegenstand zukünftigen Studien sein. Gleichzeitig sollte die bestehende Literatur unter diesen Aspekten ausgewertet werden“, schreiben die Autoren. „Das könnte der effektivste Weg sein, objektive Belege in die Diskussion um Sterbehilfe einzubringen.“
Ähnliches fordern auch Emanuel und sein Team. Aus ihrer Sicht sollten überall auf der Welt mehr und systematischere Daten zum Thema Sterbehilfe erhoben werden – nicht nur in Ländern, in denen sie bereits legal ist. „Dabei sollten vor allem drei Bereiche untersucht werden“, schreiben die Forscher. „Die tatsächliche Häufigkeit ärztlicher Sterbehilfe, wie oft Sterbehilfe gefordert und mit welchen Methoden sie durchgeführt wird, und schließlich die Rate an Komplikationen.“ In Ländern, in denen Sterbehilfe legal ist, sollten zudem regelmäßige, sorgfältige Analysen der offiziellen Daten und der Sterbeurkunden durchgeführt werden – ähnlich wie dies bereits in den Niederlanden und Belgien der Fall ist.