Im Alter kommt es beim Mann in vielen Leukozyten zum Verlust des Y-Chromosoms. Das Phänomen ist ein Risikofaktor für Tumorerkrankungen – und neuen Erkenntnissen zufolge auch für die Alzheimer–Demenz. Ist das Y Schuld daran, dass Männer früher sterben als Frauen?
Der Verlust des Y-Chromosoms in Leukozyten bei Männern im zunehmden Alter wird als „lifetime-acquired loss of chromosome Y“ (LOY) bezeichnet. Laut der neuen Analyse, die im American Journal of Human Genetics erschienen ist, erhöht LOY die Wahrscheinlichkeit, an einer Alzheimer-Demenz zu erkranken. Die Forscher hatten diesen Zusammenhang in drei unabhängigen Studien untersucht. In einer Fall-Kontroll-Studie zeigte sich, dass Männer mit einer bereits bestehenden Alzheimer-Diagnose einen höheren Grad an LOY aufwiesen als Kontrollprobanden. Dies stimmte mit den Ergebnissen von zwei prospektiv angelegten Studien überein: Männer, bei denen zu Studienbeginn mittels Blutprobe LOY festgestellt wurde, erkrankten während des Follow-up häufiger an der Demenz-Erkrankung. Das Y-Chromosom ist beim Menschen mit seiner „sex determining region of Y“(SRY) eine wesentliche Determinante der Männlichkeit. Degenerieren also Stück für Stück im Laufe des Lebens mit der Manneskraft auch die Zellen im Oberstübchen? © National Human Genome Research Institute, Wikimedia Commons
Lange Zeit ging man davon aus, dass auf dem Y-Chromosom genetisch gesehen nicht viel los ist. Eine verkümmerte Einöde aus vielen hochrepetitiven, nicht-kodierenden Pseudogenen, deren Rolle auf der Bühne der genetischen Vielfalt auf die des Stammhalters für die Übertragung der einzig entscheidenden Information beschränkt ist: der Ausprägung des männlichen Geschlechts. Das Y-Chromosom lässt sich in verschiedene Bereiche aufteilen. In der „male specific region“ (MSY) befinden sich Gene, die von der meiotischen Rekombination ausgeschlossen sind. Hier befinden sich Gene wie SRY, die für Transkriptionsfaktoren kodieren, welche an der Bildung der Hoden und damit an der Geschlechtsdifferenzierung beteiligt sind. Daneben sind auf dem Y-Chromosom die „pseudoautosomalen Regionen“ (PAR) vertreten, die an der Rekombination teilnehmen und deren genetische Information auch auf X-Chromosomen zu finden ist. Der restliche Bereich des Y-Chromosoms liegt als „heterochromatine Region“ und damit genetisch inaktiv vor.
Bei vielen Erkrankungen fällt eine geschlechtsspezifische Epidemiologie mit klarer Präferenz des männlichen Geschlechts auf. Dies trifft insbesondere auf Tumorerkrankungen zu: Laut einer epidemiologischen Studie aus den USA waren in den Jahren 1977-2006 immerhin 32 der erfassten 36 Tumortypen mit einer erhöhten Mortalität bei Männern assoziiert. Aber auch andere Erkrankungen mit hohem Einfluss auf die Gesamtmortalität wie die Arteriosklerose inklusive Myokardinfarkt fühlen sich beim männlichen Geschlecht zu Hause. Asthma und psychische Erkrankungen wie die Schizophrenie sind weitere Beispiele. Als verbindendes Element zwischen männlichem Phänotyp und der Entstehung bestimmter Erkrankungen nehmen Faktoren des Lebensstils eine wesentliche Stellung ein. Aber auch genetische Grundlagen scheinen relevant zu sein, die allerdings in diesem Zusammenhang unzureichend untersucht sind.
Um genetische Ursachen für die hohe Krebsmortalität bei Männern genauer zu ergründen, untersuchten Forscher der Universität Uppsala bereits vor zwei Jahren die Rolle von LOY bei der Tumorentstehung. In einer Studie mit 1.153 betagten Männern zeigte sie, dass eine erhöhte Inzidenz an Tumoren und eine erhöhte Gesamtmortalität mit dem Ausmaß an LOY korrelierte. Die Assoziation bestand vor allem zwischen nicht-hämatologischen Krebserkrankungen und LOY. Die Tatsache, dass LOY mit Morbus Alzheimer und soliden Tumoren scheinbar einen Risikofaktor für zwei vollständig unterschiedliche Krankheitsentitäten darstellt, wirft die Frage nach dem Warum auf. Die Forscher vermuten, dass LOY mit eingeschränkten immunologischen Fähigkeiten der Blutzellen assoziiert ist. Neben LOY scheinen auch die MSY-Gene des Y-Chromosoms bei der Tumorentstehung eine Rolle zu spielen. Das Y-kodierte Hoden-spezifische Protein (TSPY) ist ein Vertreter der Proteine, die von MSY-Genen kodiert werden. Wie der Name unschwer vermuten lässt, kommt es normalerweise fast ausschließlich im Hoden vor. In Studien konnte jedoch beobachtet werden, dass unter bestimmten Tumorerkrankungen die ektope Expression verschiedener MSY-Gene gesteigert ist. Auffällig ist, dass es sich dabei um Tumoren handelte wie das Leberzellkarzinom (HCC), das bedeutend häufiger beim Mann vorkommt. Eine mögliche Erklärung dieses Zusammenhangs: Es scheint wahrscheinlich, dass einige MSY-Gene Regulatorgene sind, die die Genexpression bei der Tumorentstehung modulieren. So könnten sich unter den MSY-Genen Protoonkogene verbergen, die ein Tumorwachstum fördern. Interessanterweise handelt es sich bei dem homologen Gegenpart des TSPY, das auf dem „weiblichen“ X-Chromosom lokalisiert ist, um ein Tumorsuppressorgen, also um ein Regulatorgen, das ein Tumorwachstum hemmt.
Nicht nur von Tumorerkrankungen, sondern auch von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie der koronaren Herzerkrankung (KHK) inklusive Myokardinfarkt werden Männer häufiger heimgesucht. Auch hier könnte sich eine Erklärung im Y-Chromosom verstecken. Zumindest im Tiermodell reguliert der SRY-Lokus die Tyrosin-Hydroxylase, ein wichtiges Enzym zur Synthese des Noradrenalins und damit Stellschraube der Blutdruckregulation. Der Bluthochdruck wiederum ist ein klassischer Risikofaktor für die Entwicklung einer Arteriosklerose und somit auch der KHK – und auch er betrifft vornehmlich den Mann. An der Entstehung der Arteriosklerose sind auch Entzündungsgeschehen entscheidend beteiligt. Und auch hier hat das Y-Chromosom scheinbar seine Arme im Spiel: MSY-Gene verursachen womöglich eine Makrophagenaktivierung, die Basis einer Entzündungsreaktion unseres Körpers.
Die aufgeführten Erkenntnisse sollten die männlichen Adressaten nicht in jähe Verzweiflung stürzen. Vielmehr besteht die Hoffnung, dass die Wissenschaft dem unfairen Zustand auf den Grund kommt, warum Männer stetig früher aus dem Leben scheiden. Die Entdeckung möglicher Regulatorgene in der Tumorprogression birgt außerdem die Perspektive, diese im Rahmen einer gezielten und individualisierten Therapie zu nutzen, um das Tumorwachstum zu stoppen – und die bei den Männern erhöhten Mortalitätsraten zu senken. Ähnliches gilt auch für andere Erkrankungen wie die Arteriosklerose, für die es bislang ebenfalls keine geschlechtsspezifischen Therapieansätze gibt.