Chemie-Cocktails fließen weiter in Gesteinsschichten, wenn auch mit Einschränkungen. Das ist der Kompromiss, zu dem sich der Bundestag jetzt durchgerungen hat. Auf gesundheitliche Risiken gehen Politiker nur am Rande ein. Dabei sind Krebsrisiken nur ein Teil der Wahrheit.
Am 24. Juni haben Union und Sozialdemokraten einen umstrittenen Gesetzesentwurf zum Fracking verabschiedet. Bei diesem Prozess gewinnen Konzerne Erdgas und Erdöl aus tiefen Gesteinsschichten. Sie pressen Wasser, Sand und Chemikalien in den Boden, um undurchlässige Schichten zu perforieren. Die Regierung verbietet unkonventionelles Fracking in Schiefer-, Ton-, Mergel- oder Kohleflözgestein im kommerziellen Bereich. Konventionelle Lagerstätten auf Sandstein-Basis klammern Politiker jedoch aus. Oppositionsvertreter befürchten Verunreinigungen des Grundwassers mit Gefahr für die Gesundheit – nicht ohne Grund.
Im Landkreis Rotenburg an der Wümme, Niedersachsen, häufen sich seit einigen Jahren Krebserkrankungen, speziell in der Samtgemeinde Bothel. Dem Epidemiologischen Krebsregister Niedersachsen (EKN) zufolge sind zwischen 2003 und 2012 genau 41 Männer an Leukämien beziehungsweise Lymphomen erkrankt. Normal wären in diesem Zeitraum 21 Fälle zu erwarten gewesen, sagte Joachim Kieschke, ärztlicher Leiter der Registrierungsstelle des EKN in Rotenburg, gegenüber dem NDR. Er sprach von „statistisch deutlich erhöhten“ Zahlen. In Rotenburg selbst liegt die Rate bei Männern jenseits der 60 rund 30 Prozent über dem Durchschnitt. Und in Kirchlinteln, Langwedel sowie in Sottrum sind es zehn Prozent. ExxonMobil fördert vor Ort Erdgas, teilweise auch per Fracking. Um politisch Druck zu machen, haben sich 200 Ärzte mit einem offenen Brief zu Wort gemeldet. Sie fordern Geld für unabhängige Analysen – bekanntlich wird es nicht einfach, den Zusammenhang zu belegen oder zu widerlegen. Mittlerweile haben Behörden im Landkreis Bothel 8.000 Fragebögen verteilt, und 5.000 kamen ausgefüllt zurück. „Leukämie und Lymphdrüsenkrebs sprechen jedenfalls sehr auf Benzole an, die bei den Bohrungen frei werden können“, vermutet der Umweltmediziner Dr. Matthias Bantz. Klar ist, dass Gordon J. Getzinger aus Durham, North Carolina, in der Umgebung von US-Fracking-Sites neben aliphatischen Kohlenwasserstoffen und Polyethoxylaten auch aromatische Kohlenwasserstoffe wie Benzol und Toluol fand.
Mögliche Krebsrisiken sind nur ein Teil der Wahrheit. Susan Nagel aus Missouri, Columbia, hat 24 häufig beim Fracking eingesetzte Chemikalien hinsichtlich ihrer biologischen Wirkung untersucht. Fast alle wirkten im Testsystem als endokrine Disruptoren. Sie interagierten unter anderem mit Rezeptoren für Östrogene, Androgene, Progesteron, Glukokortikoide und Schilddrüsenhormone. Daraufhin bestimmte Nagel die Konzentration dieser Chemikalien in Fracking-Abwässern aus Colorado. Erhielten männliche Mäuse einen Cocktail mit Substanzen in der gleichen Konzentration, verminderte sich die Zahl an Spermien. Gleichzeitig vergrößerten sich die Hoden, und es wurde mehr Testosteron produziert. Ihre Befunde interpretiert die Forscherin als Warnung, dass Abwässer in Fracking-Regionen speziell die Zeugungsfähigkeit von Männern beeinträchtigen könnten, kann aber keine präzisen Angaben machen. Daten aus epidemiologischen Studien liegen nicht vor, und Experimente aus Tieren lassen sich nur bedingt auf Menschen übertragen.
Ähnlich diffus fällt eine Studie zu Komplikationen während der Schwangerschaft aus. Brian S. Schwartz und Kollegen aus Baltimore haben für ihre Arbeit Daten von knapp 9.400 werdenden Müttern aus dem Norden Pennsylvanias analysiert. Ihre Studie lief von Anfang 2009 bis Anfang 2013. Regierungsinformationen zufolge gab es im Bundesstaat vor zehn Jahren lediglich 100 Fracking-Bohrstellen, heute sind es mehr als 8.000. Schwartz fand heraus, dass Schwangere in der Nähe großer Bohrstellen ein um 40 Prozent höheres Risiko für Frühgeburten hatten. Auch hier bleiben Forscher ratlos. „Wir wissen nicht genau, auf welche Weise die Gasförderung mit den Frühgeburten zusammenhängt, aber ein Zusammenhang ist eindeutig da“, räumt Brian Schwartz ein. Er denkt weniger an Chemikalien als an Stress durch höheres Verkehrsaufkommen.
Meredith H. Stowe aus New Haven, Connecticut, hat Hautreizungen und Beschwerden der oberen Atemwege untersucht. Ihr ist es zwar gelungen, per Fragebogen Assoziationen zu ermitteln. 39 Prozent aller Interviewten, die weniger als einen Kilometer von Fracking-Bohrstellen entfernt lebten, hatten mit Atemwegserkrankungen zu kämpfen. In zwei Kilometern Entfernung klagten noch 18 Prozent über die Atemnot und brennende Augen. Hautreizungen traten bei 13 Prozent (Zwei-Kilometer-Zone) auf, verglichen mit drei Prozent, die weiter entfernt lebten. Auch diese Arbeit hat methodische Schwächen. Alle Teilnehmer mussten selbst Angaben zu ihrem Gesundheitszustand machen; ärztliche Untersuchungen gab es nicht. Wie schwer ihre Erkrankungen tatsächlich waren und ob andere Ursachen denkbar wären, lässt sich nicht zweifelsfrei sagen.
Die wissenschaftlich unbefriedigende Situation hat mehrere Gründe: Mineralölkonzerne versuchen, störende Einflüsse zu beseitigen. Beispielsweise hat Chevron (damals Texaco) Patente für Direkt-Auflade-Batterien gekauft, um Elektroautos auszubremsen. Und über Stiftungsprofessuren machen sich etliche Unternehmen Hochschulen gefügig. Viel schwerwiegender ist die weltweite Einflussnahme auf Politiker. Hier reicht das Spektrum vom Versprechen, neue Arbeitsplätzen in strukturschwachen Regionen zu schaffen, bis hin zu Parteispenden. Letztlich wäre es Aufgabe von Regierungen, den Einsatz von Chemikalien zu erforschen, aber auch zu reglementieren. Hier bestehen große Informationsdefizite. Um Fracfluide individuell anzumischen, stehen bis zu 1.000 Substanzen zur Verfügung. Die genaue Zusammensetzung bleibt ein Firmengeheimnis – Inhaltsstoffe unter 0,1 Prozent des Gesamtvolumens müssen in vielen Ländern nicht deklariert werden. Durch Hitze und hohe Drücke kommt es im Bohrloch zu weiteren Reaktionen – mit bislang unbekanntem Ergebnis. Ein weiteres Problem: Je nach Gesteinsschicht gelangen mit dem Spülwasser unerwünschte Stoffe ans Tageslicht. Beispielsweise enthält schwarzer Schiefer neben organischem Material auch Schwermetalle und radioaktive Nuklide.
Zurück nach Deutschland. Gesundheitliche Aspekte thematisiern Regierungsvertreter im Gesetz nur ansatzweise. „Nach meiner Lesart wird für neue Genehmigungen verpflichtend eine Umweltverträglichkeitsprüfung eingeführt und es werden bestimmte Schutzgebiete ausgenommen“, sagt Dr. Martin Elsner vom Institut für Gewässerökologie, Helmholtz Zentrum München. „Bestehende Genehmigungen sind nach meiner Lesart davon allerdings nicht betroffen.“