Jedes zwanzigste Kind stottert irgendwann einmal im Laufe seiner Entwicklung. Bei vier von fünf Kindern legen sich die Probleme beim Sprechen von selbst. Mit noch mehr Wissen um die Schaltstörungen im Gehirn, könnte man auch dem restlichen Fünftel besser helfen.
„Ich mö-mö-mö-mö-möchte mich gerne mit i-i-i-ihnen unterhalten.“ Nicht immer ist bei Menschen mit solchen Sprechproblemen genug Selbstvertrauen vorhanden, eine Unterhaltung anzufangen oder auch nur daran teilzunehmen. Schon in der Kindheit leiden viele Stotterer unter Hänseleien. Eine Diskriminierung, die sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzt. Noch immer sind die Hintergründe und oft auch die Ursachen für die verlorene Fähigkeit, flüssig zu sprechen unbekannt.
Kehlkopf, Gaumen, Zunge, Lippen. Rund 100 Muskeln werden beim Sprechen betätigt. Das respiratorische System steuert die Atemluft, die unserer Stimme erst die notwendige Lautstärke verleiht. Im Gehirn müssen für dieses exakte Zusammenspiel verschiedene motorische und sensorische Bereiche genau kooperieren. Das Sprechen selber ist ein ständiges Wechselspiel zwischen der Produktion von Lauten und einer Feedback-Kontrolle dessen, was unseren Mund verlässt. Wenn die flüssige Formulierung von Sätzen ins Stocken gerät und der Sprecher Silben ganz unbeabsichtigt wiederholt, dann könnte das, so meinen Sprachwissenschaftler, auch mit einer Störung bei dieser Feedback-Kontrolle zusammenhängen. „Im Gehirn von Leuten, die stottern,“ so beschreibt es etwa Scott Grafton von der University of California, „ist etwas ganz grundlegend anders.“ Würde man mehr über physiologische Ursachen und deren Auswirkungen in zentralen Nervensystem wissen, wäre vielleicht auch ein Therapie denkbar, die direkt in diese Kreisläufe eingreift. Scott Grafton von der University of California in Santa Barbara ist Experte für die Neurologie des Stotterns @ Spencer Bruttig
Seit rund 100 Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler mit dem Thema. Sehr lange konzentrierten sich Ärzte erst einmal nur auf den psychologischen Aspekt und schickten ihre kleinen und großen Patienten gleich einmal zum Sprachtherapeuten, ohne nach den Ursachen zu fragen. „Stottern - eine Folge falscher Erziehung?“ fragten sich lange Zeit viele Eltern und Psychologen. Heute unterscheidet man drei grundlegende Situationen, bei denen es dazu kommt, dass der Sprachfluss nicht mehr funktioniert: Entwicklungsbedingtes Stottern ist die verbreitetste Form des Stotterns, die häufig in der Kindheit auftritt. Schlaganfall oder ein Gehirntrauma verursachen dagegen neurogenes Stottern, während traumatische Erfahrungen der Psyche für eine dritte Form, psychogen bedingtes Stottern, verantwortlich sind. Rund jedes zwanzigste Kind im Alter zwischen zwei und fünf Jahren fängt irgendwann einmal zu stottern an, in den meisten Fällen zum Glück nur vorübergehend. Weltweit stottert im Durchschnitt jeder hundertste, Männer sehr viel häufiger als Frauen. Aber auch bei stotternden Erwachsenen ist die Hemmung nicht immer da. Beim Reden in einer fremden Sprache oder beim Gesang klingt das sonstige Stammeln plötzlich flüssig und störungsfrei.
Vor allem Nervenbündel zwischen verschiedenen Gehirnregionen scheinen bei Stotterern weniger stark ausgeprägt zu sein als bei flüssigen Rednern. Das betrifft vor allem die Fasciculi zwischen den Sprachzentren des Broca-Areals im Präfrontalen Kortex, zuständig für die Motorik, und dem Wernicke-Areal im Temporallappen, wo Gehörtes verarbeitet wird. „In der Mehrzahl der untersuchten Stotterer schien es“, so beschreibt Scott Grafton seine Befunde aus der neuronalen Bildgebung, „als fehle hier ein neuronaler Verbindungsast.“ Mehrere Studien bestätigten diese Auffälligkeiten sowohl bei Kindern als auch bei erwachsenen permanenten Stotterern. Wenn solche Störungen in den Verbindungsbahnen schon bei Kindern auftreten, dann bleibt doch die große Frage: Warum verliert sich das Stottern im Laufe des Erwachsenwerdens wieder und was geschieht dabei im Gehirn? Könnte man solche Veränderungen auch bei permanenten Stotterern induzieren und sie auf diese Weise wieder zu flüssigen Rednern machen? Christian Kell von der Universität Frankfurt hat Kinder und Erwachsene untersucht, die von ihrer Artikulationsschwäche genesen sind. Während flüssige Redner vor allem Areale in der linken Hirnhälfte aktivieren, ist die Aktivität bei Menschen mit vergangenen oder präsenten Artikulationsproblemen ausgeglichen oder die rechte Hemisphäre leuchtet beim Sprechen sogar stärker auf. Möglicherweise versucht das Gehirn damit, die Defizite bei der Übertragung zu kompensieren, indem es entsprechende Prozesse in die andere Gehirnhälfte verlagert. „Bis zu einem gewissen Maß kann das die Symptome reduzieren“, meint Christian Kell, „aber nur zum Teil, weil die rechte Hirnhälfte eigentlich nicht zum Sprechen dient.“ Dennoch tut sich bei genesenen Stotterern auch in der linken Hälfte wieder mehr als während der Stotterphase.
Es scheint so, dass bei Betroffenen nicht nur die Verbindungen innerhalb einer Gehirnhälfte, sondern auch die Bahnen zwischen den Hemisphären nicht so arbeiten wie gewohnt. Ausfälle, so zeigen Studien mit DTI (Diffusions Tensor Imaging), gibt es auch beim Balken (Corpus callosum). Wahrscheinlich ist dabei nicht nur die Geschwindigkeit und Bandbreite des Informationsflusses für das flüssige Reden von entscheidender Bedeutung, sondern auch eine exakte Reihenfolge der Aktivierung von Zentren für die Sprachplanung und ausführender Motorik. Wenn die Reihenfolge der eintreffenden Signale durcheinander gerät, sind dann die bekannten Verhaspler eine Folge bei der Ausführung mittels Stimme. Immer wieder tauchen auch Berichte vom Stottern bei sonst Sprach-Gesunden nach einer tiefen Hirnstimulation auf. Eine Elektrostimulation des Thalamus gegen chronische Schmerzen war zwar nicht effektiv gegen das Leiden, erzeugte aber reversible ungewollte Sprechunterbrechungen. Dagegen dienen Untersuchungen mit Transkranieller Magnetstimulation oft dazu, motorische Signale etwa an die Zungenmuskulatur zu induzieren und dort abzuleiten. Auch hier haben Versuche gezeigt, dass diese Signale beim normalen Sprechen vor allem aus der linken Hemisphäre kommen, beim Stottern hingegen meist aus beiden Hemisphären gleichermaßen.
Eine ganze Reihe von Faktoren spricht für einen starken genetischen Hintergrund beim Stottern: Die Konkordanz bei eineiigen Zwillingen beträgt 63 Prozent, nicht selten tritt die Störung familiär gehäuft auf. Auch die ungleiche Geschlechterverteilung spricht für einen Einfluss des Erbguts auf den gestörten Sprachfluss. Die Suche nach den entsprechenden Genen gestaltete sich jedoch ziemlich aufwändig und schwierig. Kopplungsungleichgewichte wurden auf mindestens 10 Chromosomen gefunden, keinem der beschriebenen Gene konnte bisher jedoch eine aktive Rolle für den flüssigen Ablauf des Sprechens zugewiesen werden. Je nach untersuchtem Kollektiv wurden jeweils unterschiedliche Loci beschrieben. Ein Manko bei den bisherigen Untersuchungen ist die Tatsache, dass als Studienobjekte meist Erwachsene dienten. Bei ihnen könnten sich die Signalwege inzwischen an das neuronale Defizit mit Aus- und Umwegen in anderen Gehirnteilen angepasst haben. Bei Kindern würde sich die Situation wohl näher am Ursprung der Störung studieren lassen. Noch immer ist auch noch nicht klar, ob die beobachteten Veränderungen im Gehirn Ursache oder Folge der Sprechhemmung sind. Wie funktioniert die Kommunikation zwischen den beiden Hirnhälften beim flüssigem und weniger flüssigem Sprechen? Das ist eine der Fragen, auf die Forscher noch keine schlüssige Antwort haben.
Wenn wir mehr darüber wissen, warum das Stottern bei Kindern plötzlich auch wieder aufhört, gelänge es vielleicht, auch bei permanent stotternden Erwachsenen mit entsprechendem Verhaltenstraining solche Auswege im Gehirn gezielt aufzubauen. Oder eine einfache Pille gegen das Stottern? Immer wieder einmal tauchen Berichte auf, dass sich Dopamin-Blocker günstig auf flüssiges Sprechen auswirken sollen. Eigentlich gegen andere Leiden verschrieben, sollen sie bei stotternden Patienten zu einer deutlichen Besserung der Sprache geführt haben. Mehrere Studien konnten diese Beobachtung unter kontrollierten Bedingungen jedoch nicht wiederholen und die Fallzahlen bei erfolgreichen Studien sind klein. Möglicherweise, so spekulieren die Autoren eines Überblicksartikels vom Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, könnte man mit speziellen Hörhilfen das Reifen der fehlerhaften Nervenverbindungen zwischen Stirn-, Scheitel- und Schläfenlappen und das Wechselspiel zwischen Hören und Sprechen stärken. Wenn die Wissenschaft in Zukunft noch besser zeigen kann, wie die Kommunikation zwischen vielen verschiedenen Bereichen im Gehirn funktioniert und was bei Störungen passiert, dann gäbe es irgendwann vielleicht keinen Grund mehr, dass sich Stotterer ausgegrenzt fühlen müssen und zusätzlich zu ihrer neurologischen Störung noch etliches an Psycho-Stress erleiden.