„Viel hilft viel“, denkt sich eine Frau und nimmt zur Stärkung ihres Immunsystems täglich große Mengen eines Nahrungsergänzungsmittels ein. Das bekommt ihr allerdings nicht gut: Bald leidet sie an kognitiven und visuellen Beeinträchtigungen. Das ist ein bislang einzigartiger Fall.
Eine Frau in ihren frühen 50er Jahren zeigte seit zwei Monaten Monate fortschreitende kognitive und visuelle Beeinträchtigungen, berichtet William Rae vom University Hospital Southampton National Health Service (NHS) Foundation Trust.
Das EEG zeigte keine Besonderheiten, aber auf MRI-Aufnahmen ließ sich eine Veränderung der weißen Hirnsubstanz feststellen. Auf der Suche nach der Ursache ihrer ausgeprägten Leukenzephalopathie blieben die Laborparameter ohne Erkenntnisgewinn. Damit schied die progressive multifokale Leukenzephalopathie, eine viral bedingte Erkrankung, aus. Auch die Anti-NMDA-Rezeptor-Antikörper-Enzephalitis, eine Autoimmunerkrankung, konnte es nicht sein. Erst nach mehreren Befragungen lieferte die Patienten Ärzten einen Hinweis.
Die Dosis macht das Gift
Die Patientin gab an, regelmäßig freiverkäufliche Nahrungsergänzungsmittel mit Selen zu schlucken und diese Dosis auch gesteigert zu haben, um ihr Immunsystem zu aktivieren. Tatsächlich beeinträchtigt klinisch relevanter Selenmangel u.a. zu einer schwächeren Immunantwort. Eine Unterversorgung hatten Ärzte bei der Betroffenen nie diagnostiziert.
Ihr Selenspiegel lag bei außerordentlich hohen 5.370 μg/l. Als normal gilt der Bereich zwischen 63 bis 158 μg/l. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung rät, je nach Alter und Lebensphase insgesamt 10 bis 75 μg täglich aufzunehmen. Bei gesunder Ernährung sind keine Nahrungsergänzungsmittel erforderlich. Besonders viel Selen ist in Fisch und Fleisch enthalten. Auch Getreide- oder Milchprodukten sind reich an Selen, wenn der Boden selbst ausreichende Mengen an dem Spurenelement enthält. Daran hatte die Patientin wohl gezweifelt – und nahm abitotische Selendosen zu sich.
Nach Entgiftung beschwerdefrei
Rae schreibt, es sei überraschend, dass die Patientin keine typischen Symptome einer Selenvergiftung gezeigt habe. Meist fallen Nägel und Haare aus. Hautläsionen, Übelkeit oder Durchfall kommen mit hinzu. Leukenzephalopathien seien bislang nicht beschrieben worden.
Nach Absetzen der Supplementation verschwanden alle Beschwerden. Damit sei Selen äußerst wahrscheinlich Verursacher der Beschwerden, schreibt Rae. Da er keine Tabletten zur Analyse bekommen konnte, lassen sich weitere Giftstoffe nicht ausschließen.
Zwei Jahre nach der stationären Aufnahme untersuchte der Erstautor seine frühere Patientin erneut. Ihr Selenspiegel lag mit 170 μg/l geringfügig über dem Normalbereich. Allerdings fand Rae im MRT ausgeprägte Hirnatrophien. Er vermutet, dass dies eine Folgeerscheinung der Leukenzephalopathie ist.