Dass wir zu Jahresbeginn immer noch ohne neue Bundesregierung dastehen würden, hätte wohl niemand gedacht. Wieder einmal sieht alles nach einer Neuauflage der Großen Koalition aus. Für das Gesundheitswesen könnte dies dramatische Folgen haben.
Die SPD hat die Bürgerversicherung als Kernforderung für Sondierungsgespräche in die Waagschale geworfen. Und die Union fängt an, zu kippen. Inzwischen verkämpft sich bei CDU und CSU niemand mehr für das duale System oder die Freiberuflichkeit der Ärzteschaft. Das ist in höchstem Maße bedenklich.
Per Salamitaktik zur Bürgerversicherung
Das von der SPD vorgelegte Konzept ist nicht mehr ganz so radikal wie das ursprüngliche Modell. Die Sozialdemokraten haben gelernt: Statt der Einführung einer Einheitsversicherung mit einem harten Schnitt, kommt die Bürgerversicherung scheibchenweise mit wohlklingenden und eine gefühlte Gerechtigkeit versprühenden Einzelmaßnahmen. Sie lauten „Beitrags-Parität“, „Wahlfreiheit für Beamte“ und „einheitliche Gebührenordnung“. Das ist Salamitaktik!
Und was macht die Union? Wohl wissend, dass eine Bürgerversicherung als Gesamtprojekt Wählerstimmen kostet und vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben wird, hat sie dem SPD-Vorhaben erst einmal eine Absage erteilt. „Wir sind als CDU nicht für die Bürgerversicherung”, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Man halte nichts von einer „Einheitskasse“. Der Wettbewerb zweier Systeme werde „nicht besser, wenn man ihn abschafft“, so Merkel.
Doch bei vielen ihrer Parteikollegen gibt es Annäherungen an das Thema Bürgerversicherung, zumindest zu einzelnen Vorhaben. So plädiert beispielsweise Michael Hennrich, Obmann der CDU im Gesundheitsausschuss, für eine Neuordnung der beiden bestehenden Vergütungssysteme. Um der Kritik an einer „gefühlten Zweiklassenmedizin“ die Grundlage zu entziehen, könne er sich vorstellen, die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) und den EBM anzugleichen, sagte Hennrich. Ähnlich drückt sich seine Parteikollegin Karin Maag aus und unterstreicht, dass man an einer einheitlichen Gebührenordnung die Große Koalition nicht scheitern lassen werde.
Die Union kippt langsam, aber sie kippt!
Für den Verband der niedergelassenen Ärzte schrillen spätestens hier alle Alarmglocken. Wer weiß, welche Sprengkraft in der Weiterentwicklung von Gebührenordnungen steckt und wer das dahinter vermutete Ziel erkennt, der sieht: Es geht nun an die Grundfeste des ärztlichen Selbstverständnisses, die Freiberuflichkeit und die Autonomie, die Vergütung eigenständig zu regeln.
Jeder Freie Beruf hat das Recht auf eine eigenständige Gebührenordnung. Man stelle sich einmal vor, dass die Rechtsanwälte künftig nach einer einheitlichen Gebührenordnung bezahlt werden, die das Bundeswirtschaftsministerium nach Anhörung der Rechtschutzversicherungen und der Verbraucherzentralen erlässt.
Die Kassen-Rabatt-Gebührenordnung EBM ist ein Verteilungsmechanismus. Die eigenständige Gebührenordnung (GOÄ) ist Grundlage eines Freien Berufes und kurz davor, endlich wieder das aktuelle Leistungsgeschehen zu beschreiben. Beide zusammenzuführen ist die Quadratur des Kreises. Ich prophezeie: Es wird nicht funktionieren, ohne dass die Freiberuflichkeit auf der Strecke bleibt und auch für den bislang privatärztlichen Bereich Budgetierung und Reglementierung eingeführt werden.
Um hier gegenzusteuern, müssen wir unsere Selbstverwaltung und Selbstorganisation in Körperschaften und freien Verbänden stärken. Die Politik wird das Gegenteil versuchen, wie wir in den letzten Jahren immer wieder leidvoll erfahren mussten.
Und wir müssen unseren Patienten deutlich machen, was mit dem Ende des bewährten Systems auf sie zukommt. Wir müssen ihnen vermitteln, dass ein gutes und zuverlässiges System ohne Not von den Beinen auf den Kopf gestellt wird.
Die Bevölkerung und internationale Organisationen wie die OECD halten unser Gesundheitssystem für das beste der Welt – die freie Arztwahl, ein niedrigschwelliger Zugang zu wohnortnahen Haus- und Fachärzten und die europaweit kürzesten Wartezeiten inklusive. Im europäischen Ausland lassen sich die Folgen staatlicher Gesundheitssysteme mit Einheitskrankenversicherung beobachten: Sie sind überall teurer und befördern eine echte Zwei-Klassen-Medizin, weil sich dort parallel zum staatlichen System ein „grauer Markt“ entwickelt, in dem kaufkräftige Patienten medizinische Leistungen gegen Direktzahlung beziehen.
Das ist unsolidarisch und ungerecht. Zudem macht eine Einheitsversicherung den Arztberuf nicht attraktiver, sondern wird den Ärztemangel, den wir in vielen Regionen jetzt schon beklagen, noch verschärfen.
Diese Botschaft müssen wir in den Bundestag tragen. Dabei sind die Patienten unsere besten, nein, unsere einzigen Verbündeten!
Ihr Dr. med. Dirk Heinrich Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes
Mehr Informationen: bit.ly/Bürgerversicherung_NAV