Große Teile der deutschen Ärzteschaft sind immer noch Digitalisierungs-Skeptiker. Künstliche Intelligenzen haben innerhalb nur einer Generation unser Leben revolutioniert. Im Gesundheitswesen rollt die Digitalisierungswelle gerade erst an. Was bedeutet es für Ärzte, wenn Roboter Diagnosen stellen und KI lernende Gesundheitssysteme entwickeln können? Und wo dem Hype Grenzen gesetzt sind.
Navigationssysteme, Sprach- und Zeichenerkennung, Korrekturvorschläge bei Suchvorgängen – all das sind Beispiele künstlicher Intelligenz, mit denen die meisten von uns täglich in Berührung kommen. Im Gesundheitswesen wäre schon heute vieles möglich, aber noch nicht einmal die elektronische Gesundheitskarte ist richtig etabliert.
Die Vorbehalte unter Ärzten und Politikern sind vielfach hoch – aber auch die Hoffnungen, die in künstliche Intelligenzen gesetzt werden. Zu Recht?
Für KI-Wissenschaftler ist das menschliche Denken gleichbedeutend mit Informationsverarbeitung und damit ein Rechenvorgang. Mit KI versuchen sie, diesen Rechenvorgang nachzubilden, aber auch zu erweitern. Intelligent wird ein Computersystem dann, wenn es selbstständig und effizient Probleme lösen kann. Außerdem optimiert sich künstliche Intelligenz fortwährend selbst, indem immer neue Daten und Netzwerkmechanismen die vorhandene Basis erweitern.
Im Gesundheitswesen geht es bei künstlicher Intelligenz meist um klinische Entscheidungshilfen bzw. Entscheidungsunterstützung, um Patientenüberwachung und -coaching. Roboter werden aber auch als Helfer im OP und in der Pflege eingesetzt. Schon heute können Prototypen von Robotern „angelerntes Wissen“ und Patientendaten zu sehr präzisen und personalisierten Diagnosen und Behandlungen verknüpfen.
Solche Anwendungen wären ohne Big Data nicht denkbar. Das bedeutet vereinfacht gesprochen, dass große Datenmengen systematisch auf relevante Zusammenhänge durchleuchtet werden, die dann wiederum zu neuen Erkenntnissen führen. Gerade im Gesundheitswesen sind diese Daten (und ihre Qualität) besonders wichtig, schließlich geht es hier wie in kaum einer anderen Branche darum, Fehler aufzudecken und Prozesse und Ergebnisse zu optimieren.
Patientendaten zu sammeln ist also ungemein wichtig, um künstliche Intelligenz voranzutreiben. Genau das tun Gesundheitsapps (davon gibt es weltweit bereits 318.000) und auch die sogenannten Wearables. Sie werden in absehbarer Zeit die Möglichkeiten der personalisierten Medizin enorm erweitern. Denn zum ersten Mal bietet sich jetzt die Chance, kontinuierliche bzw. sogar lebenslange Aufzeichnungen von Millionen von Menschen für die Medizin verfügbar zu machen.
Diese Entwicklungen haben das Potenzial, das Gesundheitswesen radikal zu transformieren.
Anwendungen wie z. B. Apps oder digitale Biomarker können – das glauben zumindest die Befürworter – Kosten einsparen, indem sie teure und sperrige Analysegeräte für Kliniken und Praxen ersetzen. Bislang wurden über 570 Studien gemacht, die vielen Gesundheits-Apps eine starke (und steigende) klinische Evidenz bescheinigen.
Das IQVIA Institute in den USA errechnete, dass durch den Einsatz von Gesundheits-Apps bei nur 5 Patientengruppen (Diabetes-Prävention, Diabetes, Asthma, Herzrehabilitation und pulmonaler Rehabilitation) schätzungsweise etwa 7 Mrd. Dollar im amerikanischen Gesundheitswesen eingespart werden könnten – pro Jahr. Das entspricht etwa 1,4 % der totalen Kosten dieser Patientenpopulationen. Bei flächendeckendem Einsatz von Apps, auch bei anderen Krankheitsbildern, könnte Deutschland sogar Einsparungen im zweistelligen Milliardenbereich erzielen. Zudem könnten die Daten die Zusammenarbeit zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor erleichtern.
Patientendaten zu sammeln, zu kombinieren und zu analysieren kann die Versorgung für die gesamte Bevölkerung und für einzelne Menschen enorm verbessern. Aber es lauern auch Gefahren. So können zum Beispiel Gruppen oder Individuen diskriminiert werden; Daten können missbraucht oder gestohlen werden. Trotz allem sind Anonymisierung und Pseudonymisierung im Sinne des Datenschutzes zwingend notwendig.
Schon heute fürchten viele Menschen, dass Versicherungen durch permanente Verhaltens- und Körperfunktionsmessungen differenziertere Prämien berechnen und damit das Solidarprinzip aushöhlen könnten. Allerdings ist das aktuell eher unwahrscheinlich: Bei vielen Krankheiten sind die kausalen Zusammenhänge noch unbekannt. Der GKV ist es sogar gesetzlich verboten, nach Risiken zu differenzieren.
Die aktuellen Gesundheitsvorschriften in Deutschland verhindern aber eine einfache Bündelung von Daten, insbesondere zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen. Das führt allerdings dazu, dass die eHealth-Forschung und -Entwicklung in innovationsfreudigere Länder wie die USA abwandert. Damit wird das deutsche Gesundheitswesen zunehmend in eine passive Rolle gedrängt, statt die Innovationen mitzuentwickeln und zu steuern.
Fest steht aber: Nicht alles, was technisch möglich ist, ist auch ärztlich vertretbar oder rechtlich erlaubt. Umso wichtiger ist es daher, dass Ärzte sich kritisch mit den neuen Technologien auseinandersetzen. Möglichst schon im Studium. "Ziel ist es nicht, Ärzte zu Medizininformatikern heranzuziehen, sondern […] dass sie in die Lage versetzt werden, Daten „lesen“ zu können", schreibt Digitalmediziner Sebastian Kuhn. Er schlägt daher ein "Curriculum 4.0 – Medizin im digitalen Zeitalter" für das Medizinstudium vor, das u. a. Tablet-basiertes Monitoring, Virtual Reality-Laparoskopie und Medizinethik im Bereich Big Data beinhalten soll.
Künstliche Intelligenzen können viele Diagnosen schneller, kostengünstiger und zuverlässiger stellen als Ärzte – immer vorausgesetzt, dass sie sich auf reale und „saubere“ Daten beziehen können und Fehler im Algorithmus laufend korrigiert werden.
Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass Computer den Arzt irgendwann ersetzen. KI, die für Diagnosen konzipiert wurden, sind üblicherweise nicht in der Lage, gleichzeitig die Behandlung einzuleiten und zu überwachen. Menschen sind weiterhin bei vielfältigen Aufgaben im Vorteil; Roboter werden den Arzt also lediglich unterstützen. In Entwicklerkreisen gibt es ein Sprichwort: Was Menschen schwer fällt, ist für Roboter leicht - und umgekehrt. Die Supermaschine, die den Arzt ersetzen kann, ist noch in weiter Ferne - wenn es sie überhaupt einmal geben wird.
Es bleibt außerdem die Aufgabe des Arztes mit den Patienten die Diagnose und Therapie zu besprechen und Befunde zu erklären. Die partnerschaftliche Arzt-Patienten-Beziehung wird gemeinsam mit der sprechenden Medizin durch die Digitalisierung nur noch wichtiger.
Der „informierte Patient“ erhält zusehends mehr Einfluss auf die Behandlungsqualität. Die dafür erforderliche Gesundheitskompetenz ist allerdings nicht bei allen Menschen gleichermaßen vorhanden. Es wird eine der wichtigsten Aufgaben der Politik und der Gesellschaft in den nächsten Jahren, diese Gesundheitskompetenz zu verankern.
Darum ist es sinnvoll, bereits informierte Patienten zu tolerieren, zu akzeptieren und letzten Endes auch dahin weitergehend zu unterstützen. Kommunikation ist die Basis für ein gutes Arzt-Patienten-Verhältnis, für eine adäquate Therapie und um Fehler zu vermeiden.
Dieser Beitrag basiert auf der Studie „Künstliche Intelligenz: In welche Richtung geht die Digitalisierung im Gesundheitswesen?“ der Brendan-Schmittmann-Stiftung. Die Studie steht auf der Webseite des NAV-Virchow-Bundes kostenlos zum Download.
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